Guideline

Karpaltunnelsyndrom

Erstellt von: Simone Erni, Uwe Beise Zuletzt revidiert: 08/2022 Letzte Änderung: 02/2022

Aktualisierung 08/2022

  • Kap 5: Sonographische Diagnostik sollte nicht routinemässig durchgeführt werden
  • Kap 7: Die ultraschallgestützte Steroidinjektion verbessert die Behandlungsergebnisse bestenfalls geringfügig, die Komplikationsrate ist aber geringer.

Aktualisierung 01/2022

  • Diese Guideline wurde vollständig durchgesehen und auf Aktualität überprüft
  • Kap 7: Neu aufgenommen wurde eine Abbildung zur Steroidinfiltration.

 

1. Definition, Epidemiologie und Ätiologie

Definition

  • Beschwerdebild aufgrund einer Druckschädigung des N. medianus im Karpaltunnel.

Epidemiologie

  • Prävalenz: 1–5 %. Gipfel um das 50. Lebensjahr. Frauen : Männer = 3 : 1. Am häufigsten betroffen: Frauen in der Postmenopause, Angehörige bestimmter Berufsgruppen (Automechaniker, Landwirte). Im 3. Trimenon der SS soll die Prävalenz bis 60 % betragen (1); Symptome bessern postpartum häufig rasch.

Ätiologie/Pathogenese (1–3)

  • Voraussetzung für ein Karpaltunnelsyndom (KTS) ist meist ein konstitutioneller anatomischer Engpass. Häufigster Auslöser für die klinische Symptomatik ist eine Volumenzunahme des Tunnelinhalts bzw. eine Druckerhöhung im Karpaltunnel
    • Chronische Tenosynovitiden der Flexoren (häufigste Ursache)
    • Anatomische Missbildungen oder raumfordernde Prozesse (z. B. Lipome, Ganglion)
    • Infektionen im Handbereich
    • Posttraumatisch, z. B. nach distaler Radiusfraktur oder Fraktur der Handwurzelknochen
    • Chronische Überlastung der Hand (Tätigkeiten mit repetitiven Bewegungen der Hände mit Beugung und Streckung im Handgelenk, erhöhter Kraftaufwand der Hände)
    • Gehäuftes Vorkommen bei systemischen und endokrinen Erkrankungen
      (z. B. Diabetes, Amyloidose, Gicht, Erkrankungen des rheumatoiden Formenkreises, Hypo-/Hyperthyreose, Akromegalie, Herzinsuffizienz, Adipositas)
    • Schwangerschaft

 

2. Klinik/Symptomatik (1–3)

  • Schmerzen (oft als Brennen angegeben), Parästhesien (Kribbeln/Ameisenlaufen) und Taubheitsgefühl im sensiblen Versorgungsgebiet des N. medianus (Dig I-III), häufig auch in allen Fingern. Etwas seltener Schwächegefühl im Versorgungsgebiet des N. medianus
  • Schmerzen treten am häufigsten nachts auf, sind aber auch am Tag möglich
    (z. B. beim Radfahren). Schütteln der Hand führt zu einer Normalisierung der Gefühlsstörung/Schmerzen
  • Schmerz- und Parästhesieausstrahlung in den Vorderarmen bis zum Ellbogen und zur Schulter sind möglich
  • Tätigkeiten wie Stricken, Schreiben, Radfahren oder auch berufliche Belastung können die Beschwerden auslösen oder verstärken
  • Fluktuierender Verlauf ist häufig
  • In späteren Stadien (schweres KTS): Motorische Ausfallserscheinungen, Verminderung der Greifkraft (Gefühl von Steifigkeit in den Fingern oder Ungeschicklichkeit bei feinen manuellen Arbeiten), Hypästhesie und Atrophie der radialen Thenarmuskulatur als Zeichen einer schweren Nervenschädigung, regelmässige Schlafunterbrechung wegen nächtlicher Symptome
  • Häufig sind beide Seiten betroffen, die dominante Seite jedoch meist stärker.

Hinweis: Ein KTS, welches in der Schwangerschaft auftritt, bessert postpartum häufig rasch.



3. Diagnostik (1–3)

  • KTS ist primär eine klinische Diagnose bei Vorhandensein der charakteristischen Symptome, v. a. nächtliche Schmerzen oder Parästhesien im Versorgungsgebiet des N. medianus.

Abb 1: Versorgungsgebiet N. medianus (mit freundlicher Genehmigung SURFmed© 2022, Ph. Furger)

Anamnese

  • Den höchsten Prädiktivwert haben die Angaben über Lokalisation der Symptome, Hypalgesie und verminderte Kraft in der Daumenabduktion.

Klinische (Provokations-)Tests

Provokationstests haben eine mässige Sensitivität und Spezifität, können aber hilfreich sein im klinischen Gesamtkontext.

Abb. 2 a, b: Kompressionstest in Flexion (mit freundlicher Genehmigung SURFmed©  2022, Ph. Furger)

Phalen’s Manöver: Positiv, wenn bei 90 ° Palmarflexion im Handgelenk nach 60 Sekunden elektrisierende Beschwerden im Versorgungsgebiet des N. medianus auftreten.

Abb 3: (mit freundlicher Genehmigung SURFmed©  2022, Ph. Furger)

  • Hoffmann-Tinel-Zeichen: Beklopfen des Retinaculum flexorum löst elektrisierende Schmerzen im Versorgungsgebiet des N. medianus aus.

Abb 4: (mit freundlicher Genehmigung SURFmed©  2022, Ph. Furger)

  • Handelevationstest: Den Arm eine Minute lang hochhalten, löst KTS-Beschwerden aus.

Thenaratrophie (Seitenvergleich)

  • Oft palpatorisch am besten erfassbar
    Beachte: Rhizarthrose kann eine Thenaratrophie und Abduktionsparese des Daumens vortäuschen!

Prüfung von Sensibilität und Motorik

  • Untersuchung der Berührungsempfindlichkeit mit Wattebausch, Zwei-Punkte-Diskrimination, Aufsammeln und Erkennen von Münzen. Motorik: Abduktions- und Oppositionsschwäche des Daumens (Spätsymptom) prüfen.

 

4. Indikation elektrophysiologische Abklärung (1–4)

  • Die Notwendigkeit einer motorischen Neurographie (Nervenleitgeschwindigkeit, NLG) zur Diagnosesicherung wird heute meist als Goldstandard empfohlen (1, 2). Kosten Neurographie: Ca. CHF 340.– bei einer Patientin mit einseitigen KTS-Beschwerden, 3 Neurographien (+ gesunde Seite Medianus).
    Nachteile
    • Relativ schmerzhaft für den Patienten
    • Relativ hohe Rate falsch negativer Ergebnisse bei klinisch eindeutiger Symptomatik sowie falsch positive Befunde bei fehlenden klinischen Symptomen. Normale Elektroneurographien schliessen ein KTS nicht aus
    • Teuer.

⇒ mediX empfiehlt, die NLG nur bzw. erst zu messen bei Nichtansprechen der konservativen Therapie, bei Patienten mit unklarer Diagnose, bei klarer motorischer Dysfunktion oder Thenaratrophie sowie präoperativ zur Objektivierung (4).

 

5. Indikation sonographische Abklärung

  • Studienlage zum Nutzen der hochauflösenden Ultraschallsonographie: In Studien mit moderater Qualität zeigte sich eine Sensitivität von 74 % (95 % CI: 68–81 %) und bei niedriger Studienqualität eine Spezifität von 77 % (95 % CI: 67–87 %) gegenüber der klinischen Untersuchung (10).

⇒ mediX empfiehlt: Eine routinemässig durchzuführende Sonographiediagnostik kann aufgrund der o. g. Daten nicht empfohlen werden. Bei unklaren Fragestellungen kann sie jedoch hinzugezogen werden.

 

 

6. Differentialdiagnosen (2, 4)

  • Am häufigsten: Zervikoradikuläres Schmerzsyndrom, Polyneuropathie
  • Seltener: Periphere Durchblutungsstörung, Raynaud-Syndrom, Rhizarthrose, Tendosynovitis de Quervain.

 

7. Therapie (1, 2, 7)

  • Bei Patienten mit leichten bis mittelschweren Beschwerden immer zuerst konservative Therapie!

I. Konservative Therapie

  • Tragen einer Handgelenksmanschette in Neutralstellung zur Nacht ist die erste Massnahme (4, 6).
    Falls nicht ausreichend wirksam, zusätzlich
  • Lokale Kortikoidinjektionen (z. B. 20–40 mg Methylprednisolon) mit/ohne Lokalanästhetikum direkt in oder proximal des Karpaltunnels (zwischen den Sehnen des M. palmaris longus und des M. flexor carpi radialis, s. Abbildung 5).
    • Es besteht nur eine schwache Evidenz, dass Injektionssteuerung durch Ultraschall bessere Ergebnisse zeitigt, die Komplikationsrate ist unter sonographischer Kontrolle jedoch geringer (10)
    • Die Steroidinjektion kann der Diagnosesicherung bei unklarer Symptomatik dienen
    • Bei leichtem KTS ist eine längerfristige Besserung möglich, ansonsten ist die Schiene auf längere Sicht erfolgversprechender, weshalb Mehrfachinjektionen angesichts möglicher (seltener) Komplikationen nicht empfohlen werden (10)
    • Cave: Atrophie/Nekrose des N. medianus bei direkter Injektion in den Nerven. Risiko geringer bei Injektion proximal des Karpaltunnels!

Abbildung 5: Diagnostik- und Infiltrationspunkte beim Karpaltunnelsyndrom. Infiltration zwischen Palmaris-longus-Sehne und Os pisiforme. 45 ° nach distal und 45 ° nach radial stechen. Tief bis zum Carpus, 1 cm zurückziehen und infiltrieren (aus [8], mit freundlicher Genehmigung).

  • Ev. orale Kortikoide 1 bis max. 4 Wochen (z. B. 20 mg/d Prednisolon für max. 2 Wochen, gefolgt von 10 mg/d für 2 Wochen [7, 9]), die Wirksamkeit schwindet innert wenigen Wochen nach Absetzen (Nutzen ist jedoch geringer als der von Injektionen).

Nicht empfohlen

  • Ohne klare Evidenz: Tiefe pulsierte Ultraschall-Therapie, Magnettherapie, Nervengleitübungen, Yoga, Handwurzelmobilisation (4, 5), NSAR, Vitamin B6, Lasertherapie.

⇒ Annähernd 80 % der Patienten sprechen initial auf eine konservative Therapie an, jedoch kehren die Symptome praktisch bei allen nach 1 Jahr wieder zurück und benötigen schliesslich eine chirurgische Intervention.

II. OPERATIVE THERAPIE

Indikation

  • Mangelndes Ansprechen auf die konservative Therapie und nicht gebesserte schmerzhafte Parästhesien
  • Schwere Nervenschädigung mit Thenaratrophie oder motorische Ausfälle.

Op-Verfahren

  • Offene oder endoskopische Spaltung des Retinaculum flexorum.

Ergebnisse

  • Der Outcome beider Methoden ist vergleichbar –> in bis zu 90 % vollständige und langfristige Beschwerdefreiheit.

 

8. Literatur

  1. Reissner L, Schindele S, Herren D: Das Karpaltunnelsyndrom. Schweiz Med Forum 2012;12(24):480–484.
  2. Ges. f. Handchirurgie: S-3 Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms, 6/2012.
  3. Giersiepen K, Spallek M: Carpal tunnel syndrome as an occupational disease. Dtsch Arztebl Int 2011;108(14): 238–42. DOI: 10.3238/arztebl.2011.0238.
  4. Kothari MJ: Carpal tunnel syndrome: Treatment and prognosis. UpToDate, aufgerufen 07/2022.
  5. O’Connor D, Marshall S, Massy-Westropp N: Non-surgical treatment (other than steroid injection) for carpal tunnel syndrome (Review), 2007.
  6. Page MJ, Massy-Westropp N, O'Connor D, Pitt V: Splinting for carpal tunnel syndrome. Cochrane Database Syst Rev 2012; 7:CD010003.
  7. Kothari MJ: Carpal tunnel syndrome: Treatment and prognosis. UpToDate, aufgerufen 07/2022.
  8. Reissner L, et al.: Infiltrationstherapie der Hand in der Hausarztpraxis. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2020;20(04):130-134.
  9. Herskovitz S, et al.: Low-dose, short-term oral prednisone in the treatment of carpal tunnel syndrome. Neurology. 1995;45(10):1923.
  10. S3-Leitlinie Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms. Letzte Aktualisierung: 01/2022.

 

9. Impressum

Diese Guideline wurde im August 2022 aktualisiert.
© Verein mediX schweiz

Herausgeber
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion 
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Uwe Beise
Dr. med. Maria Huber


Autoren
Dr. med. Simone Erni
Dr. med. Uwe Beise

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