Guideline

Prophylaxe venöse Thromboembolie

Erstellt von: Andrea Rosemann Zuletzt revidiert: 07/2022 Letzte Änderung: 07/2022

Aktualisierung 07/2022

  • Die Guideline wurde vollständig überarbeitet und an den Stand des Wissens angepasst
  • Neu aufgenommen wurde ein Kapitel zur VTE-Risiko unter hormonellen Kontrazeptiva (Kap. 3.6.).

 

1. Indikation zur VTE-Prophylaxe (1)

  • In der Allgemeinbevölkerung liegt die jährliche Inzidenz einer symptomatischen venösen Thromboembolie (VTE) im Mittel bei etwa 1/1'000 mit alterslinearer Zunahme. Bereits bei 60–70-Jährigen geht man von einer Verdoppelung der Inzidenzrate auf 2,57/1'000 aus (2). Dieser Basisinzidenz in der Normalbevölkerung stehen deutlich höhere VTE-Raten bei hospitalisierten Patienten oder speziellen Eingriffen gegenüber (3).

VTE-Risikostratifizierung

  • Die Indikation zur Thrombose-Prophylaxe soll am individuellen VTE-Risiko adaptiert, in Abwägung zum Blutungsrisiko gestellt werden
  • Das individuelle Thromboserisiko setzt sich zusammen aus dem dispositionellen personenbezogenen und dem expositionellen situationsbedingten Risiko.

1 Thrombophilie: Trotz teils hoher Prävalenz hereditärer Hämostasedefekte in der Allgemeinbevölkerung ist deren konsekutives Risiko für eine Erst- oder Rezidiv-Thrombose sehr variabel (4)


2
Kontrazeption und VTE-Risiko: Evidenzbasierte Statements und Empfehlungen gemäss der aktuellen S3-Leitlinie zur hormonellen Empfängnisverhütung der deutschen, österreichischen und schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (5) –> siehe Kapitel 3.6.

3 In der Schwangerschaft liegt nur ein leicht erhöhtes Basisrisiko (0,2 %) für VTE im Vergleich zur gleichaltrigen Allgemeinbevölkerung vor. Das individuelle Risiko für die Schwangere kann sich bei mehreren (> 2) Niedrigrisikofaktoren von einem niedrigen in einen mittleren oder höheren Bereich verschieben und hängt auch von der Entbindungsart ab (Sectio erhöht das Risiko um den Faktor 5).

Scoresysteme können bei der systematischen Risikostratifizierung unterstützen

  • Für chirurgische Patienten wird v. a. der Caprini-Score (7) von vielen internationalen Leitlinien empfohlen (12, 13, 16)
  • Für nicht-chirurgische hospitalisierte VTE-Risikopatienten sind verfügbar der Padua-Score (8) oder Geneva-Score (9).

Die Anwendung ist insofern nicht unstrittig, da die Scores nicht prospektiv validiert sind und es – die nicht-chirurgischen Scores betreffend – keine validen Daten gibt, die zeigen, dass der Einsatz einer VTE-Prophylaxe auf Grundlage solcher Scores tatsächlich zu einem besseren klinischen Outcome führen würde.

 

2. Massnahmen zur Thrombose-Prophylaxe

  • Basismassnahmen sollen im Rahmen eines operativen Eingriffs bei allen Risikogruppen angewandt werden (1), dazu gehören
    • Frühmobilisation
    • Bewegungsübungen und Physiotherapie
    • Ausreichende Hydratation
  • Physikalische Massnahmen sollen ergänzend eingesetzt werden bei niedrigem VTE-Risiko (bei welchem nach Leitlinien eine medikamentöse Prophylaxe nicht indiziert ist) oder bei Kontraindikation gegen eine medikamentöse Prophylaxe (1, 14)
    • Medizinische Thromboseprophylaxestrümpfe/MTPS
    • Intermittierende pneumatische Kompression/IPK

@ MTPS: Unter einer medikamentösen Prophylaxe erbringt die Kombination mit einer MTPS-Therapie keinen Zusatznutzen (10)

@ IPK: Für die IPK ist eine Nichtunterlegenheit gegenüber einer medikamentösen Prophylaxe und Überlegenheit gegenüber MTPS nachgewiesen, ebenso ein eindeutiger Zusatznutzen für die kombinierte Anwendung von IPK und medikamentöser Prophylaxe bei hohem VTE-Risiko, weshalb die IPK von der ESA (European Society of Anaesthesiology) für diese Patienten empfohlen wird (11)

@ Kontraindikationen sind bei beiden physikalischen Prophylaxeverfahren eine relevante PAVK, eine unkompensierte Herzinsuffizienz, eine ausgeprägte Hypertonie, Entzündungen, Traumen und Neuropathien, zusätzlich bei der IPK eine frische Beinvenenthrombose wegen Emboliegefahr

  • Bei mittlerem und hohem VTE-Risiko wird leitlinienübergreifend eine medikamentöse Prophylaxe empfohlen (1, 12–16), sofern es das Blutungsrisiko zulässt. Bei Patienten mit niedrigem eingriffsbedingten expositionellen und fehlendem oder geringem dispositionellen VTE-Risiko sollte keine medikamentöse Prophylaxe erfolgen.

Medikamentöse Thromboseprophylaxe

  • Niedermolekulare Heparine (NMH)
    • Sind First-line-Empfehlung zur medikamentösen Thromboseprophylaxe (1, 12, 15) aufgrund des guten Wirkungs- und Risikoprofils
  • Direkte orale Antikoagulanzien (DOAKs)
    • Sind zugelassen zur Thromboseprophylaxe bei grösseren orthopädischen Eingriffen an den unteren Extremitäten wie elektiver Hüft- und Kniegelenksersatz-OP
    • Im Gegensatz zu orthopädischen Eingriffen gibt es aktuell keine Evidenz für den Einsatz von DOAKs in der Allgemeinchirurgie (1, 12). Es fehlen hierzu prospektive Studien, zudem kam es unter Prophylaxe mit DOAKs bei internistischen Patienten zu signifikant erhöhten Blutungsereignissen (17).
  • Indirekter Faktor-Xa-Inhibitor Fondaparinux
    • Wird zur Thromboseprophylaxe empfohlen bei grösseren orthopädischen sowie grösseren abdominellen und bariatrischen Eingriffen und im nicht-operativen Gebiet bei Patienten mit hohem VTE-Risiko, welche wegen einer akuten Erkrankung wie einer Herzinsuffizienz, akuter respiratorischer Insuffizienz oder einer akuten Infektion oder Entzündung immobilisiert sind
    • Hier aber weiterhin nur für spezielle Indikationen wie einer Kontraindikation gegen NMH.
  • Unfraktioniertes Heparin (UFH)
    • Ist gegenüber NMH deutlich weniger wirksam zur VTE-Prophylaxe, der Einsatz ist nur noch bei Kontraindikationen von NMH (oder Fondaparinux) wie zumeist terminaler Niereninsuffizienz oder deren Unverträglichkeit gerechtfertigt.
  • Stellenwert der Acetylsalicylsäure (ASS)
    • Basierend auf Studien aus Nordamerika mit Vergleich von ASS gegenüber NMH und Rivaroxaban zur Thromboseprophylaxe nach Hüft- und Kniegelenksersatz (18, 19) empfehlen die ASH-Richtlinien (14) neu ASS als Prophylaxe in diesem Indikationsspektrum gleichwertig zu den Antikoagulantien
    • Dabei gilt zu berücksichtigen, dass in den Studien ASS nicht unmittelbar ab OP, sondern als Verlängerung einer 10-tägigen NMH-Therapie eingesetzt wurde. Zudem waren Patienten mit mittlerem und hohem Risiko in den Studien unterrepräsentiert
    • Die Schweizer Expertengruppe (SEG) empfiehlt daher ASS nur als VTE-Prophylaxe 2. Wahl nach den Antikoagulantien und als Option bei niedrigem Risiko.



3. Spezielle Empfehlungen zur medikamentösen VTE-Prophylaxe

  • Im Allgemeinen entsprechen die Empfehlungen der ASH- (14) und ACCP-Guidelines (6) bezüglich Indikationsstellung, Wahl der Medikamente und Dauer der Prophylaxe der klinischen Praxis in der Schweiz
  • Beginn der Prophylaxe
    • DOAKs und Fondaparinux werden gemäss Zulassungsstudien grundsätzlich erst nach der Operation begonnen
    • NMH wurde in zahlreichen Studien bereits am Vorabend vor der OP begonnen. Aus Studiendaten ist aber kein eindeutiger Vorteil eines präoperativen im Vergleich zum postoperativen Beginn abzuleiten. Eine frühe oder eine verzögerte antithrombotische Prophylaxe bis 12 Stunden nach der Operation wird als gleichwertig erachtet (14). Ein präoperativer Beginn mit NMH ist nur dann erforderlich ist, wenn der Patient bereits Tage vor der OP hospitalisiert wurde (1)
  • Die Prophylaxedauer soll sich am Fortbestehen relevanter VTE-Risikofaktoren orientieren
    • Bei perioperativ mittlerem (Caprini-Score 3–4) und hohem VTE-Risiko (Caprini-Score ≥ 5) soll sie als Kurzzeitprophylaxe von 4–14 Tage (14), nach anderen Leitlinien mindestens 7 Tage erfolgen (1, 15)
    • Bei sehr hohem Risiko wird eine verlängerte postoperative Thromboseprophylaxe von 19-42 Tage empfohlen (1, 12–16). Zu dieser Risikogruppe (6, 7, 14) zählen
      • Grosse Operationen (Hüft-TEP, allgemein-chirurgische und gynäkologische, insbes. abdominelle und pelvine Tumor-OPs)
      • Caprini-Score ≥ 5 mit zusätzlichem Risikofaktor vorangegangene VTE, Thrombophilie, Malignom
  • Bei Heparinanwendung soll an das Risiko einer heparininduzierten Thrombozytopenie (HIT II) gedacht werden
    • Typisch für die HIT II ist ein 5–10 Tage nach Therapie-Beginn auftretender Thrombozytenabfall, innert weniger Tage auf < 50 % des Ausgangswertes (meist auf Werte zwischen 50‘000 und 100‘000/µl) mit lebensbedrohlichen arteriellen und venösen Thrombosen (Mortalität bis zu 30 %)
    • Empfohlen wird eine Kontrolle der Thrombozytenzahl für UFH bei Beginn, im Verlauf (Tag 5 und 14) und nach Abschluss der Behandlung, unter NMH bedarf es nach Leitlinien nicht zwingend einer Kontrolle (1)
    • Zur Diagnosesicherung erfolgen Antikörpertestungen. Diese sollen bei Verdacht auf eine akute HIT II nicht erst abgewartet, sondern die Heparintherapie sofort beendet und auf eine alternative Antikoagulation gewechselt werden (1, 12). Zur Therapie einer akuten HIT sind Argatroban (Argatra®) und Danaparoid (Orgaran®) zugelassen. Fondaparinux darf zwar zur erneuten Prophylaxe nach HIT verwendet werden, aufgrund der fehlenden Datenlage aber nicht zur Therapie einer akuten HIT.

3.1. VTE-Prophylaxe bei Operationen und in der Traumatologie (1, 6, 14)

1 Risikofaktoren: VTE in der Anamnese, Thrombophilie, Malignome, höheres Alter, BMI > 30, Schwangerschaft und Postpartalperiode, Hormontherapie, schwere systemische Infektion, Herzinsuffizienz NYHA III° oder IV°, nephrotisches Syndrom, chronisch venöse Insuffizienz, neurologisches Defizit

2 NMH -Dosis adaptiert an mittleres VTE-Risiko < 3‘400 aXa/d bzw. hohes VTE-Risiko > 3‘400 aXa/d

3.2. VTE-Prophylaxe bei nicht-chirurgisch hospitalisierten und ambulanten Patienten (20)

  • Bei aufgrund akuter internistischer Erkrankung hospitalisierten Patienten wird der Einsatz von NMH (oder UFH bei Kontraindikation hierfür) zur VTE-Prophylaxe empfohlen. Falls keine medikamentöse VTE-Prophylaxe eingesetzt werden kann, soll alternativ eine mechanische VTE-Prophylaxe erfolgen in Form einer graduierten Kompressionsstrumpf-Behandlung oder (sofern verfügbar) intermittierenden pneumatischen Kompression/IPK
  • Eine verlängerte VTE-Prophylaxe im ambulanten Setting (nach Spitalentlassung) wird nicht empfohlen
  • Die ASH-Guidelines (20) erwähnen explizit neu, bei ambulanten Patienten mit schwachen thrombogenen Risikofaktoren keine medikamentöse VTE-Prophylaxe einzusetzen, als solche werden genannt Immobilisation, kleine Verletzungen, Krankheit und Infektion
  • Patienten mit akutem ischämischem Schlaganfall und paretischem Bein haben ein hohes VTE-Risiko (bis 50 % TVT, bis 20 % LE) und sollen eine medikamentöse Prophylaxe erhalten (1). Bei andauernder schlaffer Parese sollte individuell über die weitere Prophylaxe entschieden werden. Die andauernde Immobilisation durch das Schlaganfallereignis allein begründet keine Fortsetzung
  • Wie bereits die ACCP-Guidelines (6) sprechen sich auch die ASH-Guidelines (20) gegen eine VTE-Prophylaxe bei chronisch immobilisierten ambulanten Patienten (z. B. in Pflegeheimen) aus.

3.3. VTE-Prophylaxe bei Tumorpatienten (21)

  • Tumorpatienten haben ein ca. 6-fach höheres thrombogenes Risiko als die Allgemeinbevölkerung. Ein besonders hohes Risiko ist für das Pankreaskarzinom, gastrointestinale Tumoren, Hirntumoren, Leukämien und das Ovarialkarzinom bekannt (22)
  • Perioperativ sollten Tumorpatienten möglichst immer eine medikamentöse VTE-Prophylaxe erhalten, wenn es das Blutungsrisiko zulässt (23)
    • Die Prophylaxe sollte, wenn möglich, prolongiert, nach abdominellen und pelvinen Tumoroperationen auch bis zu 6 Wochen erfolgen (1, 12–16)
    • Die beste Evidenz und das beste Sicherheitsprofil besteht für NMH und Fondaparinux. Fondaparinux wird in der Schweiz nur selten hierfür angewandt, ein klarer Vorteil gegenüber NMH ist nicht belegt
    • Aufgrund fehlender Studien empfehlen die ASH-Guidelines (21) in dieser Indikation keine VKA oder DOAK.
  • Ambulanten Patienten mit systemischer Tumortherapie wird nach ASH-Guidelines eine Primärprophylaxe in Abhängigkeit vom VTE-Risiko empfohlen
    • Zur Risikoabschätzung wird der Khorana-Score (24) empfohlen. Er wurde für Chemotherapie-assoziierte Thrombosen validiert und in den DOAK-Prophylaxe-Studien (25, 26) als Entscheidungs-Tool zur Anwendung einer Prophylaxe eingesetzt
    • Bei niedrigem und mittlerem VTE-Risiko wird eine Primärprophylaxe als nicht erforderlich erachtet
    • Bei hohem VTE-Risiko wird eine Prophylaxe empfohlen, sowohl NMH als auch DOAK (Apixaban oder Rivaroxaban) können eingesetzt werden
    • Patienten mit Multiplem Myelom und einer „imid-basierten“ Therapie (Lenalidomid, Thalidomid oder Pomalidomid) haben ein hohes VTE-Risiko (bis 25 %) und sollen eine Prophylaxe mit ASS, NMH oder einem VKA in fixer Dosierung erhalten
    • In der Schweiz ist die VTE-Primärprophylaxe bei ambulanten Tumorpatienten unter systemischer Therapie (noch) wenig verbreitet. Nach Angaben der Schweizerischen Expertengruppe (SEG) wird wenn, dann am häufigsten ASS 100 mg eingesetzt, NMH-Gabe wird unter Berücksichtigung der Patientenkonvenienz als begleitende Langzeit-Prophylaxe weniger empfohlen, alternativ könne Apixaban 2 x 2,5 mg eingesetzt werden (27).

3.4. VTE-Prophylaxe bei Schwangerschaft

  • Eine Schwangerschaft geht mit einem erhöhten VTE-Risiko einher von
    ca. 1–2/1’000 Schwangerschaften. Das VTE-Risiko ist in allen Trimestern einer Schwangerschaft gleich, inklusiv der Phase des Wochenbettes
  • Antithrombotische Therapie 1.Wahl zur VTE-Prophylaxe in Schwangerschaft und Stillzeit sind die NMH aufgrund ihres Sicherheitsprofils
    • Aufgrund der grössten Erfahrung in Studien werden hierbei Dalteparin oder Enoxaparin bevorzugt
    • Es wird empfohlen, die antepartale Prophylaxe früh, im ersten Trimenon zu beginnen und bis 6 Wochen postpartal fortzuführen (28).
  • Die ASH-Guidelines (29) und Schweizer Expertenkommission (30) empfehlen zur VTE-Prophylaxe im Rahmen der Schwangerschaft
    • Bei maximal 1 klinischen Risikofaktor, ausgenommen einer bekannten Thrombophilie oder stattgehabten VTE, wird eine ante- oder postpartale VTE-Prophylaxe nicht empfohlen.

@ St. n. früherer VTE  

  • Wenn die VTE unprovoziert oder durch einen hormonellen Risikofaktor begünstigt war, soll eine ante- und postpartale Thromboseprophylaxe erfolgen
  • Nach einer provozierten VTE (passagerer, nicht hormoneller Triggerfaktor,
    z. B. postoperativ) und Fehlen anderweitiger Risikofaktoren wird hingegen lediglich eine postpartale Prophylaxe empfohlen.

 @ Thrombophilie und bisher blande Eigenanamnese für VTE

  • Ihre im Vergleich zu den Empfehlungen der ASH-Guidelines weniger restriktive Indikationsstellung zur Primärprophylaxe bei Thrombophilie begründet die Schweizer Expertengruppe mit dem geringen Risiko unerwünschter Nebenwirkungen durch NMH.

 

3.5. Reise-Prophylaxe 

  • Langdauernde Reisen sind mit einem erhöhten Thrombose-Risiko assoziiert. Unabhängig von der Beförderungsart, ist das relative Risiko ab 4 Stunden verdoppelt, für jeden zusätzlichen 2-Stundenblock steigt es um weitere 18 % (31, 32)
  • Das absolute Risiko ist aber gering: TVT-Inzidenz nach 4 h-Flug ca. 1/5’000, nach 8 h-Flug 1/200 bzw. 0,5 % (33).

⇒ Die Reise per se, ohne Vorliegen weiterer Risikofaktoren, ist keine Indikation zu einer speziellen VTE- Prophylaxe.

Empfehlungen für die Praxis

  • Bei Langstreckenflügen (> 4 h) wird Reisenden mit hohem VTE-Risiko zu einer Reise-Prophylaxe mit Kompressionsstrümpfen oder NMH geraten. Falls dies nicht möglich oder gewünscht ist, nennen die ASH-Guidelines ASS als Option, welche gegenüber der Strategie „keine Prophylaxe“ der Vorzug gegeben wird (20)
  • Die Empfehlung beruht auf niedriger Evidenz. V. a. die Empfehlung für ASS ist unter dessen Nutzen-Risiko-Abwägung kritisch zu sehen, da es bezüglich VTE-Prophylaxe dem NMH bei ähnlichem Blutungsrisiko unterlegen ist (34)
  • In dem Bewusstsein, dass NMH zur Prophylaxe im nicht-chirurgischen Setting nur die Zulassung für Patienten mit eingeschränkter Mobilität hat und damit in der Reiseprophylaxe ebenfalls off-label erfolgt, werden analog zunehmend DOAK in ihrer Prophylaxe-Dosierung (z. B. Rivaroxaban 10 mg) hierfür eingesetzt. Es gibt bislang nur wenig Daten für die Anwendung in dieser Indikation (35).
    Wichtig: Der Patient ist über den Off-label-use aufzuklären, die Kosten werden nicht von der Krankenkasse übernommen.

Wann darf der Patient mit Thrombose oder Lungenembolie wieder fliegen?

Mangels Datenlage können für die individuelle Entscheidung folgende Parameter berücksichtigt werden

  • Klinische Symptomatik, Ausdehnung der TVT
  • Begleiterkrankungen
  • Geplante Reisedauer (< 4 h insbes. bei distaler TVT möglich, mit Langstreckenflügen sollte man 2 Wo. warten)
  • Nach Lungenembolie ist die Flugreisetauglichkeit kritischer zu sehen
    • Problem: Bei vorbestehender PA-Hypertonie (PAH) kann bereits eine geringe Höhenexposition über eine hypoxische Vasokonstriktion (–> Euler-Liljestrand-Mechanismus) zu einer schweren PAH und Rechtsherzdekompensation führen
    • Bei klinischem V. a. eine PAH kann eine Rechtsherzbelastung mittels Echokardiographie abgeschätzt werden
    • Empfehlungen der Fluglinien für die Mindestanforderung an die Flugreisetauglichkeit:
      Lungenfunktion: Vitalkapazität 3,0 l, FEV1 70 %
      Gehtest: Gehstrecke von 80 m oder 12 Stufen ohne Beschwerden möglich.

3.6. VTE-Risiko und Empfehlungen unter hormonellen Kontrazeptiva (5)

  • Kombinierte hormonelle Kontrazeptiva (KOK) können das VTE-Risiko erhöhen, etwa um den Faktor 2–4 (36)
  • Dies gilt nicht nur für orale, sondern auch für parenterale Anwendungen (Vaginalring, Kontrazeptionspflaster)
  • Für die Thrombogenität ist neben der Konzentration des Östrogen- insbesondere die Art des Gestagenanteils entscheidend. Als Gestagene bei KOK mit hohem VTE-Risiko gelten Drospirenon, Gestoden, Desogestrel, mit niedrigem VTE-RisikoLevonorgestrel, Norgestimat (in der CH nur in Pflasterform) und Norethisteron (36, 37).

VTE-Risiko unter oralen hormonellen Kontrazeptiva (38, 39)

  • Vor der Verordnung von hormonellen Kontrazeptiva soll die Eigen - und Familienanamnese bezüglich einer venösen Thromboembolie sorgfältig erhoben werden. Empfehlungen der DGGG, OEGGG und SGGG-GL (5)
    • KOK-Präparate mit „Niedrigrisiko“-Gestagenanteil sollen bevorzugt werden,
      v. a. für Erstanwenderinnen
    • Bei Frauen mit erhöhtem VTE-Risiko sollen kombinierte Kontrazeptiva nicht angewandt werden
    • Gestagenmonopräparate sind nicht mit einem erhöhten VTE-Risiko assoziiert und können hierfür eingesetzt werden, mit Ausnahme von Depot-Medoxyprogesteronacetat/DMPA („3-Monatsspritze“)
    • Das VTE-Risiko ist im ersten Anwendungsjahr am höchsten (Odds ratio 4,1 in den ersten 3 Monaten und 2,1 im ersten Jahr), bleibt aber auch danach auf erhöhtem Niveau (OR 1,9 in den ersten 4 Jahren) (41). Eine Konsequenz, z. B. eine Thromboseprophylaxe während der ersten Anwendungszeit, wird daraus aber nicht abgeleitet
    • Besonderes Augenmerk sollte auf Patientinnen mit hormoneller Kontrazeption gelegt werden, bei denen durch zusätzliche Faktoren wie Trauma, längere Immobilisation oder grössere Operation das VTE-Risiko temporär stark erhöht wird. Das Risiko einer ungeplanten Schwangerschaft bei Absetzen der oralen Kontrazeptiva vor einem operativen Eingriff zur Senkung des Thromboserisikos ist gegeneinander abzuwägen. Pillen-Anwenderinnen sollten bei grösseren operativen Eingriffen mit einem mittleren oder hohen Thromboserisiko ohnehin eine medikamentöse Thromboseprophylaxe erhalten und sind damit ausreichend geschützt.
  • Kombinierter Effekt des VTE-Risikofaktors Rauchen und hormonelle Kontrazeptiva
    - Nikotinkonsum als isolierter Effekt zeigt eine VTE-Risikoerhöhung, in Abhängigkeit von der Nikotindosis, um das 1,3-1,9 fache. In Kombination Nikotin mit KOK ist demgegenüber mit einem 1,3–2,2 fachen VTE-Risiko keine relevante Steigerung zu beobachten (42, 43)
    - Aufgrund der limitierten bisherigen Datenlage wird bei Frauen mit diesem Risikoprofil keine Kontraindikation zur Verschreibung von hormonellen Kontrazeptiva im Hinblick auf ein venöses Thromboserisiko gesehen, es gibt auch keine speziellen Empfehlungen für eine erweiterte Thromboseprophylaxe (z. B. bei Reisen).

 

4. Literatur

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5. Impressum

Diese Guideline wurde im Juli 2022 aktualisiert.
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Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Dr. med. Uwe Beise
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Maria Huber

Autorin
Dr. med. Andrea Rosemann

 

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