Guideline

Polypharmazie

Erstellt von: Stefan Neuner-Jehle, Oliver Senn Zuletzt revidiert: 11/2021 Letzte Änderung: 06/2023

Hinweis

Diese Guideline ersetzt die bisherige Guideline Medikationssicherheit.

 

1. Einführung

Über diese Guideline

Diese Guideline (GL) soll Hilfestellung geben, um die Behandlung von älteren und multimorbiden Patient*innen zu verbessern. Diese Patient*innen sind häufig polypharmaziert. Die GL möchte praktische Anleitungen für den optimierten Umgang mit Polypharmazie in dieser vulnerablen Patientenpopulation bereitstellen. Das Vorgehen kann in einen logischen Ablauf von vier Schritten (Kap. 2.1 bis 2.4) gebracht werden.

Für die kritische Evaluation jedes einzelnen Medikamentes mit der Frage, ob es nicht besser abgesetzt oder reduziert werden soll, stellt diese GL einen einfachen Algorithmus vor (Kap. 3), sowie Vorschläge für die Gesprächsführung rund um „Deprescribing“ und Entscheidungsfindung. Schliesslich finden sich im Anhang hilfreiche Listen zu speziellen Themen der Medikationssicherheit (Substanzen mit QT-Zeit Verlängerung und assoziiert mit Torsade de Point Risiko; Medikation in der Schwangerschaft).

Um Medikationssicherheit systematisch in der Praxis zu verbessern, gibt es neben dieser und anderer Guidelines (1, 2) auch spezifische Module, wie von der Qualitätsstiftung EQUAM. Diese legt mit dem Modul C5 die Standards für laufend zu optimierende Medikationssicherheit fest. Mit einer Zertifizierung in C5 können die Praxen ein systematisches Vorgehen bei potentiell gefährlicher Medikation nachweisen:  https://www.equam.ch/medikationssicherheit/.

Problemstellung

  • Mit steigendem Alter steigt die Anzahl chronischer Krankheiten, und es resultiert Multimorbidität
  • Wenn multimorbide Patient*innen unkritisch nach krankheitsspezifischen Guidelines behandelt werden, resultiert daraus eine Polypharmazie (3)
  • Diese Polypharmazie ist nicht evidenzbasiert, denn ältere und multimorbide Menschen sind häufig von den randomisiert-klinischen Studien ausgeschlossen, auf welchen die Guidelines basieren (4, 5)
  • Im Sinne von Evidence-based medicine soll für die Behandlung älterer und mulltimorbider Menschen nicht nur die krankheitsspezifische Evidenz, sondern auch die klinische Erfahrung und die individuellen Bedürfnisse der Patient*innen wegweisend sein (6)
  • Um eine bestmögliche Lebensqualität der multimorbiden Patient*innen zu erreichen, ist eine Nutzen-Risiko-Bewertung der Behandlung erforderlich, inklusive Priorisierung von Zielen und Massnahmen (2).

Polypharmazie

Definition

  • Es gibt keine international anerkannte Definition. Zumeist wird als Polypharmazie die gleichzeitige Einnahme von ≥ 4 oder 5 Medikamenten bezeichnet, wenn sie längerfristig eingenommen werden (7).

Epidemiologie

  • Jeder fünfte bis jeder dritte Patient über 70 Jahre ist polypharmaziert (Studien aus CH, D und USA)
  • 20–43 % der älteren Patient*innen über 65 Jahre nehmen potentiell gefährliche Medikamente ein, je nach Alter und Pflegebedürftigkeit (8, 9).

Folgen/Risiken/Möglichkeiten

  • Erhöht das Risiko von Interaktionen, NW und Medikationsfehlern (10)
  • Führt zu NW, die wiederum weitere Medikamente nach sich ziehen –> Verordnungskaskade, z. B.
    • Diuretika nach Verabreichung von Gabapentinoiden (z. B. Gabapentin oder Pregabalin) (11)
    • NSAR –> Hypertonus –> Antihypertensiva oder Neuroleptikum –> Parkinson-Syndrom –> Antiparkinsontherapie (12)
  • Verursacht häufig unspezifische Beschwerden, z. B. Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schwindel, Verwirrtheitszustände, Tremor
  • Verursacht vermehrt Spitaleinweisungen wegen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW, engl. ddverse drug reaction, EDR) (> 10 % der Einweisungen, [13])
  • Stellt einen unabhängigen Risikofaktor für Stürze dar
  • Nicht alle Interaktionen sind klinisch relevant, etwa 5,6 % führen zu klinischen Ereignissen (12)
  • Über 50 % aller UAW werden bei Polypharmazie als vermeidbar angesehen (14)
  • Durch Änderung der Medikation/Dosierung und Vereinfachung des Applikationsschemas kann die Komplexität der Pharmakotherapie bei 20 % der Patient*innen nach Spitalentlassung reduziert werden (15)
  • Über 50 % der Hospitalisationen wegen UAW sind auf OAK/Thrombozytenaggregationshemmer und Antidiabetika zurückzuführen (16). Allerdings haben diese Substanzen, ebenso wie Antibiotika, auch ein hohes Nutzenpotential. Es geht also darum, bei der Medikationsbewertung (s. Abschnitt 2.2.) das Nutzen-/Schadenpotential sorgfältig abzuwägen
  • Eine aktuelle Metaanalyse zeigt eine UAW-Prävalenz von 8,2 % im ambulanten Setting. Im Mittel wurden ein Viertel der UAW als vermeidbar angesehen (12–38 %) (17).
  • Ein pragmatischer Umgang mit dem Ziel einer adäquaten Polypharmazie soll deshalb angestrebt werden! (–> siehe auch King’s Fund Report)

 

2. Umgang mit Polypharmazie  

2.1. Bestandesaufnahme und Medikationsabgleich (Medication Reconciliation)

Erfassung der Medikamente

  • Notwendige Voraussetzung für eine Analyse und Optimierung der Arzneitherapie ist die Erfassung/Abgleich aller eingenommen Medikamente bei Patient*innen mit Multimedikation. Erfassung systematisch 1 bis 2 x pro Jahr oder bei Auftreten von Problemen oder nach Hospitalisation (kritische Schnittstelle für Medikationsfehler) (18)
    Vorgehen: Der Patient (ggfls. eine Bezugsperson) bringt alle Arzneimittel (inkl. Selbstmedikation) und Packungsbeilagen von zu Hause mit (Brown-Bag-Methode). Erfassung in der Patientenakte, anschliessend Medikationsplan (s. u.) aktualisieren. Hinweis: Kann auch durch MPA gemacht werden, je nach Praxisorganisation
  • Die Patient*innen sollen ihren Hausarzt/ihre Hausärztin unverzüglich informieren, wenn andere Ärzt*innen (Spital, Spezialisten, Notfallarzt) diesen Medikationsplan abgeändert haben (z. B. zusätzliche Medikamente oder Medikamentenstreichungen)
  • Ergebnis der „reconciliation“ ist die Erfassung des IST-Zustandes (Mediliste).

2.2. Medikamentenbewertung (Medication Review)

Die Notwendigkeit der Medikamente sollte grundsätzlich kritisch hinterfragt werden. Bei bestimmten Medikamentengruppen lohnt es sich besonders, genauer hinzusehen und das kritische Reviewing durchzuführen –> s. nachfolgende Tabelle 1 [16, 19])

Bei der strukturierten Evaluierung kann der (modifizierte) Medication Appropriateness Index (MAI) herangezogen werden (siehe Anhang 5.1). Dieser ist allerdings sehr umfassend und deshalb wenig praktikabel.  Einfacher in der Anwendung ist der Garfinkel-Algorithmus, der im Kapitel 3 (Deprescribing) vorgestellt wird.

Hilfreiche Instrumente

Um die Angemessenheit der Medikation zu überprüfen, können verschiedene Instrumente hilfreich sein (18).

Liste mit potentiell ungeeigneten Medikamenten (Potentially Inappropriate Medication, PIM)

  • PRISCUS 2.0-Liste 
    Vorteile: Medikamentenauswahl entspricht weitgehend den in der Schweiz üblichen Präparaten. Angaben zu Alternativen, Dosisanpassungen, Monitoring
  • STOPP-Liste (siehe Anhang 5.2) (21–23) und Online tool: Medstopper
  • Beers-Liste: Liste der US-amerikanischen Beers-Pocket Card (nicht ohne weiteres auf den Schweizer Arzneimittelmarkt übertragbar) (24).

Welches Interaktionspotential haben die verordneten Medikamente?

Hinweis: Generell ist die Studienlage für klinisch relevante Interaktionen lückenhaft. Eine Software zur Überprüfung des Interaktionspotentials von Medikamenten ist sinnvoll, wenn auch Aussagen zur klinischen Relevanz und Empfehlungen zum Management gemacht werden. Die meisten Praxissoftwareanbieter stellen eine Interaktionssoftware zur Verfügung. Wir empfehlen die Aktivierung dieser Software.

Screening auf Unterbehandlung

Polypharmazie birgt – scheinbar paradoxerweise – auch die Gefahr der Unterbehandlung. Am häufigsten betrifft dies folgende Therapien (25)

  • Laxanzien bei Schmerztherapie mit Opiaten
  • Betablocker bei Myokardinfakt
  • ACE-Hemmer bei Herzinsuffizienz
  • Orale Antikoagulantien bei Vorhofflimmern
  • Bisphosphonate bei Osteoporose.
  • Siehe auch START-Liste (siehe Anhang 5.2) (26).

Nutzen- und Risikobewertung wichtiger Medikamente bei älteren Menschen

FORTA-Klassifikation, bei der Medikamente nach ihrem Nutzen und ihrem Risiko in 4 Kategorien (A–D) eingeteilt werden.

Anmerkung: Die FORTA-Klassifikation wurde in Deutschland auf der Basis von umfassender Literaturrecherche und Expertenmeinungen erstellt und mit Hilfe eines Delphi-Verfahrens konsentiert (27, 28).

2.3. Entscheidungsfindung

Priorisierung

  • Was ist für den Patienten/die Patientin zur Zeit das Wichtigste?
  • Welche Beschwerden schränken ihn/sie z. Zt. im Alltag besonders ein?
  • „Was wäre Ihr grösster Wunsch, wenn Sie frei wünschen könnten?“
  • „Was ist Ihr konkretes Ziel für die Behandlung?"
  • Berücksichtigung von Lebenserwartung und Gebrechlichkeit

    Hinweis: Gebrechliche (fragile) Personen haben im Unterschied zu „robusten“ oder fitten gleichaltrigen Patient*innen eine deutlich reduzierte Lebenserwartung, womit der Nutzen einer Intervention immer unwahrscheinlicher wird. Messung der Gebrechlichkeit: Die Gehgeschwindigkeit ist ein unabhängiger Indikator für das Überleben – unabhängig von Alter, Geschlecht, Benutzung einer Gehhilfe und chronischen Erkrankungen. Die Gehgeschwindigkeit kann auf einer 4 Meter-Teststrecke in der Praxis einfach mittels Stoppuhr erfasst werden. Über eine Beobachtungszeit von 7 Jahren zeigte sich beispielsweise, dass bei gebrechlichen Patient*innen (definiert als Gehgeschwindigkeit < 0.8 m/s) ein erhöhter Blutdruck (> 140/90 mmHg) keinen Einfluss mehr auf die Gesamtmortalität hatte (29).

 Kommunikation (Shared Decision Making)

  • Behandlung ausführlich erklären (nicht nur auf Nachfragen reagieren) und vergewissern, dass der Patient/die Patientin es verstanden hat
  • Erklären, welcher Nutzen zu erwarten ist, welche Risiken bestehen. Welche Probleme/Nebenwirkungen können auftreten und was ist dann zu tun?
  • Gemeinsam Nutzen und Risiken einer Behandlung entlang der Präferenzen und Werte des Patienten abwägen
  • Gemeinsam eine Entscheidung treffen
  • Gemeinsam einen konkreten Plan zur Umsetzung entwickeln
  • Medikationsplan ausdrucken
  • Kontrolltermin vereinbaren, mit der Zusicherung, abgesetzte/reduzierte Medikamente wieder starten zu können, falls nötig (vermittelt Sicherheit)
  • Dauerrezepte sollten nach einem Jahr überprüft werden
  • Hinweise geben, welche Medikamente nicht eigenständig abgesetzt, pausiert oder in der Dosierung verändert werden.

Ein „Shared Decision Making“(SDM)-Gespräch lässt sich zwanglos in nachfolgende drei Phasen strukturieren (30). Eingangs sollte jedoch geklärt werden, ob seitens des Patienten überhaupt der Wunsch nach SDM besteht. SDM ist kein „Allheilmittel“ für alle Patient*innen

  1. Schritt „team talk“: Der Arzt/die Ärztin ermutigt den Patienten/die Patientin, zusammenzuarbeiten und gemeinsam eine Entscheidung zu finden, die auf die individuellen Bedürfnisse und Ziele zugeschnitten ist. Dies gilt in den Fällen, in denen grundsätzlich mehrere Therapieoptionen bestehen.
  2. Schritt „option talk“: Die verschiedenen Optionen werden mit ihren jeweiligen Vor- und Nachteilen vorgestellt und erörtert.
  3. Schritt „decision talk“: Entscheidungsgespräch, bei dem Patientenpräferenzen erhoben und verwendet werden, um die bevorzugte Option auszuwählen.

2.4. Medikationsplan

Medikationsliste

Die Medikamentenliste soll mindestens enthalten

  • Name und Alter
  • Medikament (Handelsname) und Dosierung
  • Einnahme (Mo-Mi-Ab-Na)

Vermerk: Bitte bei jedem Arztbesuch mitbringen!
Optional sind folgende Informationen

  • Allergien/Unverträglichkeiten
  • Generikaname
  • Identa-Abbildung
  • Indikation
  • Name und Kontaktdaten des Verschreibers
  • Besondere Einnahme-Modalitäten (vor/während/nach Mahlzeiten, welche Medikamente nicht gleichzeitig einnehmen, etc.)
  • Besondere Einnahme-Dauer (v. a. Datum des geplanten Absetzens)
  • QR-Code und digital hinterlegte Information.

 

3. Deprescribing

Garfinkel hat einen Abklärungsalgorithmus entwickelt, anhand dessen sich Polypharmazie bei Hochbetagten reduzieren lässt (31, 32). Eine Arbeitsgruppe am Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich hat eine vereinfachte Version für die Anwendung in der Hausarztpraxis entwickelt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Good Palliative Geriatric Practice (GPGP) Algorithmus zur Überprüfung der Medikation bei hochbetagten/palliativen Patient*innen (modifiziert nach Garfinkel, [33])

In der zugrundeliegenden Garfinkel-Studie konnten bei diesem Vorgehen fast 50 % der Medikamente in einer geriatrischen Population abgesetzt werden – bei verbesserter Lebensqualität der (hochbetagten) Patient*innen (30). Im Rahmen einer Pilotstudie, durchgeführt am Institut für Hausarztmedizin der Universität Zürich, zeigte sich, dass die Anwendung des adaptierten Algorithmus in der Hausarztpraxis machbar ist und bei Ärzt*innen und Patient*innen akzeptiert wurde (32). Damit liess sich im Durchschnitt 1 von 8 Medikamente pro Patient*in (> 60-jährig, polypharmaziert) absetzen, und zwar nachhaltig (über mind. 12 Monate hinweg). Es zeigte sich aber auch, dass durch Beginn neuer Medikamente bei den multimorbiden Patient*innen der Effekt nach 6 Monaten verwässert; somit empfiehlt es sich, das Überprüfen der Medikation systematisch alle 6 Monate zu wiederholen (34).

Beachte: Ablehnung/Skepsis gegenüber Deprescribing

Nicht alle Patient*innen sind ohne weiteres einverstanden mit dem Absetzen oder Reduzieren ihrer „gewohnten“ Medikamente: In der oben erwähnten Studie (34) lehnte rund ein Viertel der Patient*innen den Deprescribing-Vorschlag ihrer Ärztin/ihres Arztes ab.Eine Vielzahl von Gründen für diese ablehnende Haltung ist beschrieben (35, 36). Die wichtigsten davon sind

  • Eine konservative Grundhaltung mit Angst vor jeden Veränderungen, in diesem Fall vor der Veränderung der Medikation
  • Konfirmations-Bias: Das Weiterführen der Medikation bestärkt mich in der Wahrnehmung, dass die Medikation gut ausgewählt wurde und die richtige für mich ist. Eine Veränderung stellt diese bisherige positive Wahrnehmung in Frage
  • Angst vor Entwertung: Der Eindruck, dass die Reduktion der Medikamente Ausdruck davon ist, dass es sich nicht mehr lohne, für mich Geld auszugeben
  • Fragmentierte Betreuung mit verschiedenen Verschreibern und entsprechenden Loyalitätskonflikten: Wenn mir Medikamente von der Ärztin A verschrieben wurden, und jetzt ein anderer Arzt diese in Frage stellt, dann wird damit gleichzeitig die Kompetenz der Ärztin A angezweifelt. Diesen Zweifeln möchte ich als Patient ausweichen
  • Angst vor Rationierung: Die Sorge, dass die Reduktion der Medikamente aus rein finanziellen Gründen motiviert ist, und nun ausgerechnet bei mir gespart wird.

Ärztliche Kommunikation bei ablehnender Haltung des Patienten/der Patientin

Die Kenntnis solcher Hindernisse ist nützlich, um sie bei zögerlichen Patienten anzusprechen und offen zu diskutieren. Oft helfen dabei folgende organisatorischen Elemente und Gesprächsinhalte

  • Die Zusicherung, dass ein abgesetztes Medikament jederzeit wieder eingesetzt werden kann, sollte es ohne dieses Medikament schlechter gehen
  • Es vermittelt den Patient*innen Sicherheit, wenn ein kurzfristiger Kontrolltermin vereinbart wird, bei dem die Situation nach Deprescribing nochmals evaluiert wird
  • Eine Medikation, die bisher richtig war, muss nicht unbedingt in Zukunft auch die richtige sein: Das Alter steigt, und neue/mehrere Krankheiten kommen hinzu. Mit der Veränderung des Menschen macht auch eine Veränderung der Medikation Sinn!
  • Die Zusicherung, dass nicht die Kosten, sondern der Schutz vor den gefährlichen Auswirkungen der Überbehandlung/Fehlbehandlung das Ziel der Bemühungen ist
  • Die Bereitschaft, mit anderen Verschreibern zu kommunizieren, um einen Konsens zur Behandlung (und speziell zum Absetzen eines Medikamentes) zu finden.

Deprescribing-Algorithmen

Für einige Substanzklassen, bei denen der unangemessene Einsatz ein Thema ist, hat eine kanadische Gruppe Deprescribing-Algorithmen entwickelt, beispielsweise zu Protonenpumpenblockern, blutzuckersenkenden Medikamenten, Antipsychotika, Benzodiazepine oder Antidementiva.

 

4. Literatur

  1. DEGAM: Hausärztliche Leitlinie. Multimedikation. Empfehlungen zum Umgang mit Multimedikation bei Erwachsenen und geriatrischen Patienten, 5/2021.
  2. NICE Polypharmacy Guidance Realistice Prescribing, 2018 https://www.therapeutics.scot.nhs.uk/wp-
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    .
  3. Dumbreck S, et al.: Drug-disease and drug-drug interactions: systematicexamination of recommendations in 12 UK
    national clinical guidelines. BMJ 2015;350:h949.
  4. Boyd CM, et al.: Clinical Practice Guidelines and Quality of Care for Older Patients With Multiple Comorbid Diseases Implications for Pay for Performance. 2005;294(6):716-724. http://jama.jamanetwork.com/article.aspx?articleid=201377.
  5. Jadad AR, To MJ, Emara M, Jones J: Consideration of multiple chronic diseases in randomized controlled trials. JAMA. 2011 Dec 28;306(24):2670-2. doi: 10.1001/jama.2011.1886. PMID: 22203536.
  6. Sackett DL, Rosenberg WMC, Gray JAM, Haynes RB, Richardson WS: Evidence based medicine: what it is and what it isn't. BMJ 1996;  312 :71 doi:10.1136/bmj.312.7023.71.
  7. Haefeli W: Polypharmazie. Swiss Med Forum 2011; 47: 847–852.
  8. Opondo D, Eslami S, Visscher S, de Rooij SE, Verheij R, Korevaar JC, Abu-Hanna A: Inappropriateness of medication prescriptions to elderly patients in the primary care setting: a systematic review. PLoS One. 2012;7(8):e43617. doi: 10.1371/journal.pone.0043617. Epub 2012 Aug 22. PMID: 22928004; PMCID: PMC3425478.
  9. Kuijpers MAJ, et al.: Relationship between polypharmacy and underprescribing. Br J Clin Pharmacol.2008 Jan; 65(1): 130–133.
  10. Burkhardt H, Wehling M: Probleme bei der Pharmakotherapie älterer Patienten. Internist 2010; 51: 737-748.
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  12. Schuler J, et al.: Polypharmacy and inappropriate prescribing in elderly internal-medicine patients in Austria. Wien Klin Wochenschr 2008; 120: 733–741.
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  14. Rochon PA, Gurwitz JH: Optimising drug treatment for elderly people: the prescribing cascade.BMJ. 1997 Oct 25; 315 (7115): 1096–1099. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2127690/.
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  19. Pruskowski JA, et al.: How to implement deprescribing into clinical practice. J Am Coll Clin Pharm. 2021;1-10. doi:10.1002/jac5.1521.
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  25. Kuijpers MAJ, et al.: Relationship between polypharmacy and underprescribing. Br J Clin Pharmacol.2008 Jan; 65(1): 130–133.
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  31. Garfinkel D, Mangin D: Feasability study of a systematic approach for discontinuation of multiple medications in older adults. Arch Intern Med 2010; 170: 1648–1654.
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  33. Neuner-Jehle S, Krones T, Senn O: Systematisches Weglassen verschriebener Medikamente ist bei polymorbiden Hausarztpatienten akzeptiert und machbar. PRAXIS 2014;103(6):317-322.
  34. Zechmann S, Senn O, Essig S, Merllo C, Rosemann T, Neuner-Jehle S: Effect of a patient-centred deprescribing procedure in older multimorbid patients in Swiss primary care - A cluster-randomised clinical trial. BMC Geriatr 20, 471 (2020). 
  35. Zechmann S, Trueb C, Valeri F, Streit S, Senn O, Neuner-Jehle S: Barriers and enablers for deprescribing among older, multimorbid patients with polypharmacy: an explorative study from Switzerland. BMC Fam Pract. 2019 May 14;20(1):64. doi: 10.1186/s12875-019-0953-4. PMID: 31088397; PMCID: PMC6518702.
  36. Reeve E, To J, Hendrix I, Shakib S, Roberts MS, Wiese MD: Patient barriers to and enablers of deprescribing: a systematic review. Drugs Aging. 2013;30(10):793–807.

 

5. Anhang

5.1. Der (modifizierte) Medication Appropriateness Index (MAI)

Tabelle 2: Medication Appropriateness Index (nach [7])

 * Hierzu gehören auch Überlegungen zu den angestrebten Zielwerten, z. B: Welche „individualisierten" Blutdruck- oder HbA1c-Werte werden angestrebt?
** Links: http://www.thennt.com/home-nnt/ - nntgastroenterology, http://nephron.com/cgi-bin/CGSI.cgi, http://www.dosing.de/Niere/nierebck.htm

 

 

5.2. START-/STOPP-Kriterien

Tabelle 3: START-/STOPP-Kriterien zum Screening auf Fehl- und Unterbehandlung (Auswahl)

  • Die STOP-Kriterien werden – zusammen mit den Beers-Kriterien – auch im internetbasierten tool Medstopper verwendet.

 

5.3. Medikamente, die zu einer Verlängerung der QT-Zeit und erhöhtem Risiko für Torsade de Pointes (TdP) führen können

 Nicht alle Medikamente, welche die QT-Zeit verlängern, erhöhen auch das Risiko von Torsade de Pointes (TdP). Die in der nachfolgenden Tabelle 4 aufgelisteten Medikamente sind nachgewiesenermassen mit einer  Verlängerung der QT-Zeit und erhöhtem Risiko für TdP assoziiert, selbst wenn sie wie vorgeschrieben eingenommen werden.

Tabelle 4: Medikamente, deren Anwendung mit verlängerter QT-Zeit assoziiert ist

Daneben gibt es weitere Medikamente, die zwar mit einer verlängerten QT-Zeit einhergehen, jedoch ohne nachgewiesenermassen erhöhtem Risiko für TdP

5.4. Welche Medikamente können in der Schwangerschaft (nicht) verabreicht werden?

Allgemeine therapeutische Prinzipien der Pharmakotherapie während der Schwangerschaft und Stillzeit sind

  • Risiko der Medikamenteneinnahme ist abhängig vom Gestationsalter
  • Vor allem im 1. und 3. Trimester sollten Medikamente restriktiv eingesetzt werden
  • Gewissenhafte Nutzen-Risiko-Abwägung
  • Keine teratogenen und embryotoxischen Medikamente verabreichen (s. Tabellen 5 und 6)
  • Monopräparate aus „Positivliste“ auswählen (s. Tabelle 7)
  • Präparate mit grossem Erfahrungswert bevorzugen
  • Niedrigst nötige Dosierung wählen bei kürzest möglicher Einnahmedauer
  • Über Off-label Gebrauch muss die Schwangere unbedingt aufgeklärt werden!

Stillzeit

  • Bei passagerer Medikamenteneinnahme evtl. abpumpen und Milch verwerfen
  • Vor Medikamenteneinnahme Stillen, dann 4 h Stillpause
  • Bei potenziellem Risiko Abstillen erwägen und dies mit der Patientin erörtern.

Tabelle 5: Die wichtigsten teratogenen (embryotoxischen) Medikamente


Tabelle 6
: Die wichtigsten fetotoxischen Medikamente


Tabelle 7
: „Positivliste" – in der Schwangerschaft anwendbare Medikamente

 

6. Impressum

Diese Guideline wurde im November 2021 erstellt.  
© Verein mediX schweiz

Herausgeber
Dr. med. Felix Huber

Redaktion
Dr. med. Uwe Beise
PD Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Maria Huber

Autoren
Prof. Dr. med. Stefan Neuner-Jehle
Prof. Dr. med. Oliver Senn

 

Rückmeldungen bitte an:

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