Factsheet

Körper-Stress-Syndrom

Erstellt von: Julia Hennemann, Daniel Imhof, Stefan Büchi, Uwe Beise Zuletzt revidiert: 09/2023 Letzte Änderung: 09/2023

Definition

  • Der Begriff Körper-Stress-Syndrom („bodily distress disorder“, BDD) wird definiert durch funktionelle körperliche Beschwerden über einen Zeitraum > 3 Monaten, denen der Patient
    • Ein hohes Mass an Aufmerksamkeit widmet
    • Die das tägliche Leben beeinträchtigen und
    • Die zu wiederkehrenden medizinischen Konsultationen führen.
  • Die Symptome können fast alle Organsysteme umfassen (–> Patienteninformation)
  • Der Begriff Körper-Stress-Syndrom soll die Diagnostik von funktionellen Beschwerden vereinfachen (Problem zahlreicher überlappender Krankheitsbilder/Definitionen im Bereich der Psychosomatik).

Häufigkeit und Bedeutung

  • In der hausärztlichen Sprechstunde leiden bis zu 30 % der Patient*innen unter funktionellen Beschwerden
  • Körper-Stress kann die Lebensqualität stark beeinträchtigen und geht oft mit Ängsten und Depressionen einher, das Suizidrisiko ist erhöht. Der Verlauf kann selbstlimitierend sein, in 30 % der Fälle kommt es jedoch zur Chronifizierung
  • Der Stress durch die körperlichen Symptome verursacht hohe Gesundheitskosten
  • Eine frühzeitige ärztliche Intervention hat einen starken Einfluss auf die Prognose.

Einteilung

  • Schweregrad
    Das Körper-Stress-Syndrom kann als leicht (6C20.0), mittelschwer (6C20.1) oder schwer (6C20.2), je nach Grad und Ausprägung der oben aufgeführten Merkmale beurteilt werden
  • Typ
    Multi-Organ Typ (häufiger) oder Single-Organ Typ (seltener)
    Unterkategorien
    • Gastrointestinaler Typ (z. B. Reizdarmsyndrom)
    • Muskuloskelettaler Typ (z. B. Fibromyalgie)
    • Kardiopulmonaler Typ (z. B. Palpitationen)
    • Generalisierter Typ (z. B. Müdigkeit, Erschöpfung).

Diagnostik (s. a. Algorithmus)

  • Das Körper-Stress-Syndrom ist eine klinische Diagnose, basierend auf gründlicher Anamnese und Untersuchung
  • Der Begriff „Körper-Stress“ lässt die Ätiologie eines einzelnen Symptoms zunächst offen, und fokussiert auf die subjektiv empfundene Belastung durch die Beschwerden
  • Wichtig: Es handelt sich nicht um eine Ausschlussdiagnose. Körper-Stress kann mit jeder anderen psychischen oder somatischen Erkrankung koexistieren! Die Diagnose kann ohne weitergehende apparative Diagnostik gestellt werden, sofern die definierenden Kriterien (s. o.) gegeben sind.
    Zur Unterstützung können standardisierte Fragebögen eingesetzt werden
    • PHQ-15 Fragebogen (Instrument zur Erfassung der Belastung)
    • HADS-Fragebogen (Instrument zur Beurteilung von Angst und Depression bei Patienten mit somatischen Beschwerden)

Algorithmus: Diagnostische Schritte und Therapieoptionen

 

Therapeutisches Vorgehen (s. a. Algorithmus)

⇒ Edukation ist die wichtigste therapeutische Intervention –> Aufklärung des Patienten über sein Krankheitsbild

  • Das gemeinsame Erarbeiten des Stressmodells (–> Patienteninformation) ist ein guter Einstieg ins Gespräch und verhindert effizient, dass der Fokus der Konsultation sich um die Erklärung von Einzelbeschwerden dreht. Es veranschaulicht einen gemeinsamen Nenner in Bezug auf emotionale, kognitive und körperliche Symptome. Ausserdem kann das Thema „Stress“ als Missverhältnis zwischen Resilienz (persönlicher Widerstandskraft) und externen Stressoren (Beruf, Familie, etc.) aufgegriffen werden
  • Die Erläuterung der Symptomentstehung und Pathophysiologie kann mit Hilfe einer Abbildung zum vegetativen Nervensystem erfolgen.

⇒ Weitere therapeutische Massnahmen sollten nur bei Persistenz der Symptome nach Edukation und Selbstmanagement erwogen werden

  • Systematisches körperliches Aktivierungsprogramm mit speziell dafür geschulten Physiotherapeuten
  • Behandlung von Schlafstörungen: Vermittlung schlafhygienischer Massnahmen, App-basierte Kognitive Verhaltenstherapie, in Ausnahmefällen ev. vorübergehende medikamentöser Therapie
    Siehe auch mediX Guidelines Müdigkeit und Schlafstörungen
  • Die Vermittlung zur ambulanten Psychotherapie sollte nur bei relevanter psychosozialer Belastung oder psychischer Komorbidität erwogen werden, ist aber nicht in jedem Fall erforderlich
  • Je nach spezifischer Motivation des Patienten weitere komplementäre Therapieformen (z. B. Atemtherapie, achtsamkeitsbasierte Therapien, Biofeedback, Meditation, autogenes Training)
    Eine sorgfältig erwogene und kurzfristige Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann in Akutsituationen vonnöten sein. Zu lange Arbeitsausfälle sollten vermieden werden.

⇒ Verlaufskontrollen in regelmässigen Abständen (z. B. Folgetermin nach 1 bis 2 Monaten). Dabei kann ein erneutes Erheben des PHQ-15-Scores die Besserung der erlebten Belastung dokumentieren.

 

Literaturauswahl

  1. Roenneberg C, Henningsen P, Sattel H, Schäfert R, Hausteiner-Wiehle C: (2018). S3-Leitlinie Funktionelle Körperbeschwerden. AWMF online.
  2. Wampold BE (2017): What should we practice? A contextual model for how psychotherapy works. The cycle of excellence: Using deliberate practice to improve supervision and training, 49-65.
  3. Büchi S, Haas S (2017): Das Patientenvertrauen im Fokus. Bulletin des médecins suisses, 98(25), 829-831.
  4. Haller H, Cramer H, Lauche R, Dobos G (2015): Somatoform disorders and medically unexplained symptoms in primary care: a systematic review and meta-analysis of prevalence. Deutsches Ärzteblatt International, 112(16), 279.
  5. Roenneberg C, Sattel H, Schaefert R, Henningsen P, Hausteiner-Wiehle C (2019): Funktionelle Körperbeschwerden. Dtsch Arztebl Int, 116, 553-560.
  6. Fink P, Toft T, Hansen MS, Ørnbøl E, Olesen F (2007): Symptoms and syndromes of bodily distress: an exploratory study of 978 internal medical, neurological, and primary care patients. Psychosomatic medicine, 69(1), 30-39.
  7. Kroenke K, Spitzer RL, Williams JB: The PHQ-15: validity of a new measure for evaluating the severity of somatic symptoms. Psychosom Med. 2002 Mar-Apr;64(2):258-66. doi: 10.1097/00006842-200203000-00008. PMID: 11914441.

Ausführliche Literaturliste bei den Verfassern.

 

Impressum

Dieses Factsheet wurde im September 2023 erstellt.
© Verein mediX schweiz

Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Uwe Beise 
Dr. med. Maria Huber

Autor*innen
Dr. med. Julia Hennemann
Daniel Imhof
Prof. Dr. med. Stefan Büchi
Dr. med. Uwe Beise

Dieses Factsheet wurde ohne externe Einflussnahme erstellt. Es bestehen keine finanziellen oder inhaltlichen Abhängigkeiten gegenüber der Industrie oder anderen Einrichtungen oder Interessengruppen.

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