Guideline

Hörsturz

Erstellt von: Olivia Stanimirov Zuletzt revidiert: 01/2022 Letzte Änderung: 04/2022

Aktualisierung 01/2022

  • Die Guideline wurde vollständig durchgesehen und auf Aktualität geprüft
  • Die Empfehlungen zur Steroidtherapie (Abschnitt 7) wurden überarbeitet.

 

1. Definition

Der Hörsturz ist eine plötzlich auftretende, in der Regel einseitige Innenohrschwerhörigkeit von unterschiedlichem Schweregrad bis hin zur Ertaubung. Zusätzlich können Schwindel und/oder Ohrgeräusche auftreten.

 

2. Epidemiologie

Es gibt keine sicheren Daten. Neuerkrankungen schätzungsweise
20–300/100’000 Personen pro Jahr (1). 

 

3. Ätiologie/Pathogenese

Die Ursache ist unbekannt. Vaskuläre und rheologische Störungen, Infektionen und zelluläre Regulationsstörungen werden als Pathomechanismen diskutiert (1).

 

4. Symptome

Der Hörsturz tritt in der Regel einseitig auf, nur ausnahmsweise sind zeitgleich beide Ohren betroffen. Symptome (nach Häufigkeit) (1)

  • Akuter einseitiger Hörverlust
  • Tinnitus
  • Druckgefühl im Ohr
  • Schwindel
  • Hyper-/Diplo-/Dysakusis
  • Pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale Dysästhesie).

 

5. Diagnostik

1. Schritt: Ausschluss Schallleitungsstörung

  • Ursachen: U. a. Cerumen, Fremdkörper, Otosklerose, Cholesteatom.

Abklärung

  • Otoskopie (ev. Ohrmikroskopie)
  • Stimmgabeltest (440 Hz) zur groben Orientierung bei Allgemeinarzt.    
    Weber-Test: Lateralisiert bei sensorineuraler Störung (Hörsturz) ins gesunde Ohr oder ist mittig, bei Leitungsstörung in das kranke Ohr. Beachte: Der Weber-Test ist bei isolierter Störung im Hochtonbereich nicht zuverlässig. Insgesamt findet sich bei bis zu 20 % keine Lateralisation (14)!
    Rinne-Test
    : Wird der Ton besser über die Knochenleitung gehört, liegt eine Leitungsstörung im selben Ohr vor.

2. Schritt: Durchführung eines Tonaudiogramms

  • Bei Anhalt für Hörsturz ist eine rasche, aber nicht notfallmässige Durchführung eines Tonaudiogramms (innert 7 Tagen) indiziert.
    Die Untersuchung kann in der Hausarztpraxis durchgeführt werden, wenn die technischen und fachlichen Voraussetzungen gegeben sind, ansonsten –> Überweisung ORL
    Zum therapeutischen Vorgehen je nach Befund in der Tonaudiometrie –> s. Kap. 7
  • Tympanometrie und Vestibularisprüfung
    Hinweis: Bildgebung mit CT und Labordiagnostik werden nicht zur Routinediagnostik empfohlen.

3. Schritt: MRI Schädel mit Felsenbeinen zur Abklärung auf Vestibularisschwannom

  • Bei sensorineuraler Hörminderung und Persistenz nach 3 Monaten (Reintonaudiogramm) (3).

 

6. Differentialdiagnosen (Auswahl)

Etwa 10–15 % der sich rasch entwickelnden Hörverluste haben ihre Ursache in einer anderen zugrunde liegenden Erkrankung. Mit Hörminderung können u. a. einhergehen (1, 2)

  • Cerumen
  • Mittelohrbelüftungsstörungen: Tubenmittelohrkatarrh, Paukenerguss (Abklärung: Weber-Versuch, Otoskopie)
  • Morbus Menière: Rezidivierende Schwindelanfälle mit Erbrechen über Stunden, Tinnitus, Spontannystagmus und einseitiger Gehörsverminderung
  • Vestibularisschwannom (VS) (früher: Akustikusneurinom)
    Einseitige, manchmal akute Hörverminderung bei 90 % der Patienten, ausserdem Tinnitus, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel (3). Laut US-amerikanischer ORL-Guideline (2) sollte Abklärung auf VS routinemässig erfolgen, da VS-Prävalenz bei Hörsturz relativ hoch (ca. 3–10 %)
    • Diagnostik: S. o.
    • Einseitige VS sind zumeist langsam wachsende Tumoren. Insbesondere bei älteren Patienten kontrolliertes Abwarten mit MRI-Kontrolle nach 6 und 12 Monaten. Bei Kindern und Jugendlichen baldige chirurgische Therapie (rasches Wachstum möglich).
  • Bakterielle/virale Infektionen (Neurosyphilis, Borreliose, Zoster): Sind selten; Suchtests nach Erregern nur im Verdachtsfall
  • Vaskuläre Insuffizienz (Schlaganfall etc.) –> dann insbesondere auch Testung des Gleichgewichtsorgans mittels HINTS (Head Impulse, Nystagmus, Test of Skew) (12)
  • Multiple Sklerose (selten im Schub ausschliesslich Hörminderung).

 

7. Therapie

Indikation

  • Bei Hörverlust ≥ 25 dB, vorgeschädigten Ohren, sowie bei zusätzlichen vestibulären Beschwerden und/oder Tinnitus wird von den ORL-Fachgesellschaften zu einer Steroidherapie geraten (1, 2, 7–9). Die Studienlage ist aber weiterhin unbefriedigend; es gibt keine Therapie mit eindeutigem Nutzennachweis (divergierende Studienergebnissse, schlechte Studienqualität, hohe Spontanheilungstendenz).

Behandlungsbeginn

  • Die Therapie sollte rasch, aber nicht notfallmässig initiiert werden (1, 4, 5) – wenn möglich innert 7 Tagen, sofort im Anschluss an die Diagnostik.

Nicht (routinemässig) empfohlen

  • Hyperbare Sauerstofftherapie (HBOT): Sehr umstritten. Gewisse Effekte auf das Hörvermögen scheinen bei frühzeitigem Einsatz der HBOT möglich, deren klinische Signifikanz ist aber unklar. Ein routinemässiger Einsatz ist aufgrund der Datenlage nicht gerechtfertigt (1, 10)
  • Nicht empfohlen: Rheologische Therapie, Aciclovir, Plasmapherese, Antioxidantien, Ginkgo, Histamin, Bettruhe (1).

 mediX empfiehlt

  • In der Hausarztpraxis (wenn Tonaudiometrie durchführbar)
    • Bei Hörverlust < 25 dB (gegenüber gesundem Ohr) –> watchful waiting für 7–10 Tage; wenn keine Besserung –> Überweisung an ORL (1, 5). Bei Zeitdruck ggfls. shared decision making und Überweisung schon früher. 
    • Bei Hörverlust 25–39 dB und ohne Komorbiditäten –> Steroidtherapie in der HA-Praxis:
      • 100 mg Spiricort® für 3 Tage, anschliessend 50 mg für 3 Tage, dann Hörtest-Kontrolle nach 7 Tagen.
  • Überweisung an ORL
    • Bei Patienten mit Hörverlust ≥ 40 dB (und ohne Komorbiditäten) –> Überweisung an ORL, dort ggfls. Hochdosis-Steroidtherapie (6)
      • 40 mg Dexamethason für 3 Tage, dann 10 mg für 3 Tage, dann Hörtest-Kontrolle (Vorgehen entsprechend USZ).
    • Bei Betagten oder gebrechlichen Patienten sowie bei Patienten mit Diabetes oder Hypertonie mit Hörverlust > 25 dB –> Überweisung an ORL, dort intratympanale Therapie.

 

8. Prognose

  • Günstiger Verlauf – auch bezüglich Schwindel und Tinnitus – bei isolierter Schwerhörigkeit im Tiefton- oder Mittelfrequenzbereich bzw. bei leichtgradigen Hörverlusten (vollständige Restitutio 70–90 %) (1)
  • Mit hochgradigem Hörverlust bzw. Schwerhörigkeit im Hochtonbereich verschlechtert sich die Prognose (1)
  • Ungünstigste Prognose bei primär an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit oder Taubheit und bei zusätzlichen objektivierbaren Gleichgewichtsstörungen
  • Bei Hörstürzen im Tief- und Mittelfrequenzbereich ist später kontralaterale Manifestation möglich
  • Nach etwa 12 Monaten ist mit keiner Besserung des Hörvermögens mehr zu rechnen (Hörgeräteversorgung erst nach ca. 1 Jahr empfohlen, bei hohem Leidensdruck ggfls. auch früher)
  • Empfehlungen für das gesunde Ohr (insbesondere bei nicht vollständiger Restitutio): Kein Tauchen*, Lärmschutzmassnahmen (11).

    * Bei jedem Tauchen, auch bei einem sehr routinierten Taucher, kann es zu Dekompressionskrankheit oder Barotrauma kommen. Es sollte daher, insbesondere, wenn das andere Ohr nicht wieder ganz gut gekommen ist, das gute Ohr geschützt und daher nicht getaucht werden.

 

9. Literatur

  1. Weber PC: Sudden sensorineural hearing loss. UpToDate, aufgerufen 12/2021.
  2. Clinical Practice Guideline: Sudden hearing loss. Otolaryngology - Head nand Neck Surgery 2019; 146 (3) Suppl. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31369349/.
  3. Park JK, et al.: Vestibular schwannoma (acoustic neuroma). UpToDate, aufgerufen 12/2021.
  4. Conlin AE, Parnes LS: Treatment of sudden sensorineural hearing loss, I: a systematic review. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 2007;133(6):573-581.
  5. Labus J, Breil J, Stutzer H, Michel O: Meta-analysis for the effect of medical therapy vs. placebo on recovery of idiopathic sudden hearing loss. Laryngoscope 2010;120(9):1863-1871.
  6. Egli GD, et al.: Effectiveness of systemic high-dose dexamethasone therapy for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Audiol Neurootol 2013;18(3):161-70. doi: 10.1159/000346938. Epub 2013 Feb 27.
  7. Moon IS, Lee JD, Kim J, Hong SJ, Lee WS: Intratympanic dexamethasone is an effective method as a salvage treatment in refractory sudden hearing loss. Otol Neurotol. 2011;32(9):1432-6. doi: 10.1097/MAO.0b013e318238fc43.
  8. Rauch SD, et al.: Oral vs Intratympanic Corticosteroid Therapy for Idiopathic Sudden Sensorineural Hearing Loss. A Randomized Trial. 2011;305(20):2071-2079.
  9. Morita S, et al.: The Short- and Long-Term Outcome of Intratympanic Steroid Therapy as a Salvage Treatment for Acute Low-Tone Sensorineural Hearing Loss without Episodes of Vertigo. Audiol Neurootol. 2016;21(3):132-40. doi: 10.1159/000444577. Epub 2016 Apr 15.
  10. Bennett MH, et al.: Hyperbaric oxygen for idiopathic sudden sensorineural hearing loss and tinnitus. Cochrane Database Syst Rev, 2007.
  11. Rauch SD: Idiopathic sudden sensorineural hearing loss. NEJM 2008; 359: 833-40.
  12. Zamaro E, et al.: "HINTS" bei akutem Schwindel: peripher oder zentral? Swiss Medical Forum 2016; 16(1):21–23.
  13. Kleinjung T, Huber A: Der Hörsturz. Von der Diagnose zu einer rationalen Therapie. Swiss Medical Forum 2016; 2016;16(48):1038–1045.
  14. Shuman AG, et al.: Tuning Fork Testing in Sudden Sensorineural Hearing Loss. JAMA Intern Med. 2013;173(8):706-70.

 

10. Impressum

Diese Guideline wurde im Januar 2022 aktualisiert. 
© Verein mediX schweiz

Herausgeber
Dr. med. Felix Huber

Redaktion 
Dr. med. Uwe Beise
PD Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Maria Huber


Autoren
Olivia Stanimirov

FÄ für Oto-Rhino-Laryngologie


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