Guideline

HIV/Aids

Erstellt von: Uwe Beise, Andreas Kronenberg, Rainer Weber Zuletzt revidiert: 11/2020 Letzte Änderung: 09/2023

Sexuell übertragbare Infektionen

Für PatientInnen

Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in unseren Gesundheitsdossiers.

Aktualisierung 09/2023

  • Der Abschnitt Präexpositionsprophylaxe (Kap. 6.1) wurde mit Informationen zur Medikamenteneinnahme und Rezeptur ergänzt.

 

1. Epidemiologie (1–2)

Global (2018)

  • 37,9 Millionen Kinder und Erwachsene lebten 2018 mit HIV/AIDS
  • 1,7 Millionen, darunter 160‘000 Kinder, infizierten sich 2018 neu mit HIV
  • 770‘000 Menschen starben 2018 an AIDS
  • Die Zahl der HIV-Neuinfektionen ist um ca. 16 % gesunken – von ca. 2,1 Millionen (2010) auf 1,7 Millionen (2018)
  • Die Zahl der HIV-Neuinfektionen bei Kindern ist um 41 % gesunken – von ca. 280‘000 (2010) auf 160‘000 (2018)
  • Hochrisikoländer: 61 % der HIV-infizierten Population befindet sich in Ländern der Subsahara-Region.

Hinweis: Aktuelle epidemiologische Informationen aus allen Kontinenten/Ländern finden sich hier: statista.com, UNAIDS

Schweiz

Die aktuell publizierten Zahlen des BAG aus 2018

  • Prävalenz: In der Schweiz leben ca. 17‘000 Menschen mit HIV
  • Inzidenz: 425 Neu-Diagnosen im Jahr 2018 (5 Neuinfektionen auf 100'000 Einwohner)
  • Übertragung: 53 % MSM, heterosexuell 30 % bei Männern, 77 % bei Frauen, 3 % Drogen injizierende Menschen (IVDA). Anmerkung: Bei einem Teil der Infizierten liess sich der Übertragungsweg nicht sichern
  • Die Zahl neuer Aidsfälle hat sich in den letzten Jahren bei etwa 60 bis 80 Fällen pro Jahr stabilisiert
  • Die Zahl der PrEP (Präexpositionsprophylaxe)-Nutzer wird auf ca. 1‘500 geschätzt.

 

2. Übertragungswege und -risiken (1–5)

Die Übertragung erfolgt durch Kontakt infektiöser Körperflüssigkeiten (Blut, Sperma, Scheidenflüssigkeit) mit Wunden oder Schleimhäuten. Etwa 50 % der Übertragungen erfolgen auf Grund des sehr hohen viral load (VL) bei Patienten mit akuter HIV-Infektion (17), weshalb die Frühdiagnose besonders wichtig ist.

Sexuelle Übertragung

  • Häufigster Übertragungsweg: Risiko anal (rezeptiv 0,5 %, insertiv 0,07 %) > vaginal (Frauen 0,1 %, Männer 0,05 %). Übertragung auch ohne Ejakulation
  • Zusätzliche Geschlechtskrankheiten STD oder genitale Ulzera und hohe Viruslast erhöhen Übertragungsrisiko
  • Übertragung durch oralen Geschlechtsverkehr ist unwahrscheinlich (Sperma/Menstruationsblut im Mund: Risiko < 0,000‘1 %)
  • Bei HIV-Patienten unter wirksamer antiretroviraler Therapie (ART) besteht ein sehr geringes HIV-Übertragungsrisiko, vergleichbar in etwa mit dem Schutz durch Kondom (9, 29). Die Schutzwirkung der ART ist in vollem Umfang allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen gegeben
    • Die ART wird konsequent eingenommen und die Wirksamkeit regelmässig kontrolliert
    • Die Viruslast (VL) unter ART liegt seit mindestens sechs Monaten unter der Nachweisgrenze (d. h. die Virämie ist supprimiert)
    • Es bestehen keine Infektionen mit anderen sexuell übertragbaren Erregern.

Drogeninjektion

  • Durch gemeinsames Benutzen von Spritzenbesteck, Löffel, Filter, Tupfer (Übertragungsrisiko 0,7 %)
  • Häufig Co-Infektionen mit Hepatitis C (auch bei MSM)
  • Eine akzidentielle Stichverletzung durch eine alte herumliegende Nadel stellt in aller Regel keine relevante Exposition dar.

Mutter-Kind

  • Kinder von HIV-pos. Müttern können in der SS, bei der Geburt und beim Stillen angesteckt werden
  • Die Übertragungsrate ist abhängig vom Gesundheitszustand der Mutter
    • Ohne medizinische Massnahmen beträgt das HIV-Übertragungsrisiko in der CH 25 %
  • Unter optimalen Bedingungen (ART in der SS, Verzicht auf Stillen, 4-wöchige ART des Babys) sinkt das Risiko auf < 1 %
  • Bei unterdrückter Viruslast besteht kein Vorteil einer elektiven Sectio gegenüber der vaginalen Geburt, weswegen bei supprimierter Virämie (< 50 Kopien/ml) eine vaginale Geburt empfohlen wird (30).

Blut/Blutprodukte

  • Übertragung über Blut ist in der Schweiz praktisch ausgeschlossen (6).

Kein Ansteckungsrisiko

  • Bei alltäglichen sozialen Kontakten – also z. B. keine Übertragung durch Küssen, Husten, Tränen, Zahnbürsten, Essen vom selben Teller, im Hallenbad oder via Toilettenbrille.

 

3. HIV-Prävention (7)

  • Kondome senken das Ansteckungsrisiko um 80–95 % und reduzieren auch das Risiko für die Übertragung von Chlamydien, Gonorrhoe, Syphilis, Herpes simplex und HPV
  • Kein gemeinsamer Gebrauch von Injektionsmaterial
  • Kein Sperma oder Blut in den Mund
  • Handschuhe bei medizinischen Verrichtungen
  • Eine Zirkumzision reduziert das Risiko für den Mann, von einer HIV-pos. Frau angesteckt zu werden, um 50–60 %. Es gibt keine Evidenz, dass dies umgekehrt oder von Mann zu Mann ebenfalls gilt (8).

 

4. Klinik und Verlauf der HIV-Infektion (10)

1.  Akute HIV-Infektion/Akutes Retrovirales Syndrom/Primoinfekt

Die akute HIV-Infektion kann symptomfrei verlaufen. Bei 40–80 % kommt es jedoch 2 bis 4 Wochen nach Infektion zu einem akuten retroviralen Syndrom (20) mit  

  • Fieber 38–40 °C (bei > 70–80 %)
  • Lymphadenopathie axillär, zervikal, occipital, im Verlauf regredient, jedoch oft Persistenz einer mässigen Lymphadenopathie
  • Halsschmerzen mit pharyngealer Rötung, meist ohne Tonsillitis
  • Schmerzhafte, scharf begrenzte Ulzerationen genital, anal oder oral (ösophageal)
  • Generalisierter Hautausschlag, typischerweise 48–72 h nach Fieberbeginn, 5–8 Tage persistierend
    • Lokalisation: Oberer Thorax, Kopfhaut, Hals, Gesicht, Extremitäten, Palmae und Plantae
    • Effloreszenzen: Typisch sind kleine 5–10 mm grosse, gut abgegrenzte, runde bis ovale, rosafarbene bis dunkelrote Maculae oder Maculopapeln, selten vesikulär, pustulös oder urtikariell.
  • Myalgie, Arthralgie
  • Kopfschmerzen, oft retroorbital mit Zunahme bei Augenbewegungen
  • Nausea, Diarrhö, Gewichtsverlust.

Die o. g. Beschwerden sind unspezifisch und ähneln einer akuten EBV-Infektion (19).

  • Vor allem prolongierte Symptome und das Vorhandensein von mukokutanen Ulzera sind suggestiv für HIV!

Labor

  • Initial Absinken der Leukozytenzahl, evtl. Leberenzymerhöhung, milde Anämie und Thrombozytopenie.

Differentialdiagnosen

  • EBV (nur selten Exanthem, häufig Tonsillitis), CMV (kein Exanthem), Toxoplasmose (kein Exanthem), Rubella (kein Ausschlag an Palmae und Plantae), Syphilis, Virushepatitis, disseminierte Gonorrhoe, Pityriasis rosea (keine Allgemeinsymptome), andere virale Infekte. Neu aufgetretener systemischer Lupus erythematodes kann sich ähnlich manifestieren (jedoch ANA-positiv).

2.  Asymptomatische Latenzphase

  • Nach dem Primoinfekt folgt eine asymptomatische Latenzzeit (wenige Jahre bis > 10 Jahre) ohne wesentliche klinische Zeichen, häufig besteht aber eine periphere Lymphadenopathie.

3.  Vollbild von AIDS

  • Die fortgeschrittene Infektion führt zu einer progredienten Verschlechterung der Immunabwehr mit gehäuften Infekten und schliesslich auch zu opportunistischen Erkrankungen, die in der Regel bei immunkompetenten Personen nicht auftreten.

* Ungewollte Gewichtsabnahme (≥ 10 %), die mit persistierenden Diarrhoen und/oder Fieber einhergeht

  • Die Stadieneinteilung nach CDC berücksichtigt sowohl die klinische Präsentation (A = asymptomatisch, B = gehäufte Infekte, C = opportunistische Infekte) als auch die zelluläre Immunität, gemessen an der Zahl der CD4-Lymphozyten (1 = > 500/μl, 2 = 200–500/μl, 3 = < 200/μl). Hinweis: Es wird immer das schlechteste je erreichte Stadium beschrieben, weshalb die Stadieneinteilung bezüglich der aktuellen Situation nicht sehr hilfreich ist. Dazu sind v. a. die aktuellen Werte der Viruslast und der CD4-Zellzahl relevant.

 

5. Diagnose/HIV-Test (6, 11)

Selbsttest

  • Es werden mehrere Tests in Apotheken angeboten, die eine europäische CE-Kennzeichnung tragen. Die Anwendung wird von der Eidgenössischen Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG) befürwortet. Die Tests sind zuverlässig, wenn die Infektion vor mindestens 3 Monaten erfolgt ist.

Ärzte-initiierte HIV-Beratung und -Testung („provider-initiated counselling and testing", PICT)

  • Die Indikation für einen HIV-Test mit entsprechender Beratung ist grosszügig zu stellen, wenn eine entsprechende Klinik oder Laborkonstellation oder ein Risikoverhalten vorliegt (Tabelle 2 und 3, Seite 5) (6, 11). Eine dringende Indikation besteht bei Symptomen eines Primoinfekts und beim Vorliegen einer AIDS-definierenden Erkrankung (Tabelle 1, Seite 4).

    Hintergrund: Ca. 30 % der Betroffenen werden erst im Stadium einer fortgeschrittenen Immunschwäche (CD4-Zellen < 200/μl) diagnostiziert. V. a. bei älteren Personen wird die HIV-Infektion oft nicht in Betracht gezogen.
    Nutzen: Durch frühzeitige Diagnose und Therapie sollen u. a. die HIV-bezogene Morbidität und Sterblichkeit sowie die Übertragungsraten gesenkt werden.

Vorgehen

  • Der in der Schweiz verwendete HIV-Combo-Schnelltest der 4. Generation ist ein zuverlässiger Test und geeignet zum HIV-Screening in der Praxis (24, 25). Er entspricht einem kombinierten Antikörper-/Antigen-Test. Ein zusätzlicher direkter Virusnachweis mittels PCR (HIV-RNA-Test) ermöglicht eine Diagnosestellung ca. 5–7 Tage früher und ist höchstens während des akuten retroviralen Syndrom indiziert. Beachte: PCR-Tests allein können nicht für ein Screening verwendet werden, sie dienen dem Monitoring der HIV-Infektion bzw. der Therapiekontrolle.
  • Jeder positive Test muss zwingend in einer 2. Blutentnahme mit einer anderen Methode bestätigt werden (z. B. mittels PCR). Falls die Vortestwahrscheinlichkeit für eine HIV-Infektion hoch ist, kann zusätzlich zum 4. Generations-Schnelltest in der Praxis unmittelbar danach – während der gleichen Konsultation – eine zweite Blutentnahme vorgenommen werden zum Versand in ein auswärtiges Labor, wo mit einer zweiten Methode die HIV-Diagnostik ergänzt wird.
  • Vor dem Test ist eine sorgfältige Sexual- und Risikoanamnese erforderlich.

Wie zuverlässig ist der HIV-Combo-Schnelltest? (24)

  • Praktisch alle Neuinfektionen können bereits 6 Wochen nach Ansteckung nachgewiesen werden (22, BAG) (Sensitivität: 99,5–100 %, Spezifität: 99,5–99,93 %), weshalb das empfohlene Intervall zum Testen nach letztem ungeschützten GV von 3 Monaten auf 6 Wochen reduziert wurde (22)
  • Bei asymptomatischen Patienten ist eine erste Testung frühestens 14 Tage nach der Exposition sinnvoll (Einschluss, nicht Ausschluss)
  • Bei nicht-reaktivem Test und gleichzeitigem Verdacht auf Primoinfektion: Der Patient soll unmittelbar mit einer HIV-PCR und nach 14 Tagen erneut mittels eines Combo-Schnelltests getestet werden.
  • Beachte positiven Vorhersagewert (PPV)
    • Bei Angehörigen der Allgemeinbevölkerung wird ein reaktives Resultat mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % nicht als positiv bestätigt, bei einem Mann mit Sexualkontakten zu Männern ist dies nur in 2–5 % der Fall.

 Weiteres Vorgehen

  • Ein reaktiver Test ist der untersuchten Person als „reaktiv“ mitzuteilen unter Hinweis auf die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlich erfolgten Infektion (s. o.). Der reaktive Test muss durch ein BAG-anerkanntes Bestätigungslabor bestätigt werden; erst dann ist der untersuchten Person das Resultat als „bestätigt positiv“ mitzuteilen und dem BAG zu melden (Meldepflicht)
  • Bei Bestätigung der Diagnose ist es oft sinnvoll, gleichzeitig den HIV-Subtyp und die Viruslast zu bestimmen und allenfalls eine Resistenzprüfung durchführen zu lassen (11).

 

6. Prä- und Postexpositionsprophylaxe (12–14, 26–28)

6.1. Präexpositionsprophylaxe (PrEP)

  • Eine PrEP kann eine HIV-Infektion verhindern und wird in gewissen Subgruppen von Hochrisikopatienten (v. a. MSM ohne Kondom) empfohlen
  • PrEP ist nicht indiziert bei HIV-negativen Personen, die Sex haben mit einer HIV-positiven Person, die unter wirksamer antiretroviraler Therapie (ART) steht
  • mediX empfiehlt eine Verschreibung nur nach sorgfältiger, individueller Prüfung der Vor- und Nachteile.

Medikation

  • Zur PrEP wird das orale Kombinationspräparat Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil eingesetzt, das als Generikum verfügbar ist
  • Einnahmeoptionen:
    • Tägliche PrEP (1 x täglich 200 mg Emtricitabin/245 mg Tenofovirdisoproxil)
    • «Event-based» PrEP / «on demand»: Einnahme im Kontext geplanter Sexualkontakte: 2 Tabletten auf einmal 2 bis 24 h vor sexuellem Kontakt, danach 1 Dosis nach 24 h und eine weitere Dosis nach 24 h
    • «Holiday PrEP»: tägliche Einnahme während eines bestimmten Zeitraums
  • Rezeptierung und Information:
    • Emtricitabin/Tenofovirdisoproxil ist in der Schweiz seit Mai 2020 zur PrEP zugelassen, die Krankenkassen übernehmen die Medikamentenkosten jedoch nicht, und somit sind die Kosten durch die Patienten selber zu tragen
    • Dies muss explizit so kommuniziert werden und das Präparat spezifisch «für PrEP» rezeptiert werden
    • Das Präparat ist für diese Indikation in vereinzelten Apotheken in der Schweiz für rund 50 CHF/Monat plus ggf. Versandkosten erhältlich. Das Präparat kann somit nicht über die eigene Versandapotheke oder die üblichen Verkaufskanäle erworben werden
    • Bezugsmöglichkeiten der PrEP-Medikation sind Fachärzt/innen und STI-Fachstellen bekannt. Es gibt keine offiziellen Listen der nationalen oder kantonalen Behörden
  • Die PrEP erfordert eine regelmässige Betreuung/Beratung des Patienten
  • Vor Verschreiben einer PrEP muss ein negativer 4. Generation HIV-Test vorliegen
  • Wichtig: PrEP bietet keinen Schutz vor anderen sexuell übertragbaren Krankheiten (STD). Darüber müssen die Patienten aufgeklärt werden –> 3-monatliche Kontrolle auf STD und HIV-Test
  • Kontrolle möglicher unerwünschter Wirkungen (Nierenfunktion (Kreatinin), ALT/GPT) alle 6 bis 12 Monate, ev. Densitometrie, v. a. bei kontinuierlicher Einnahme.

Wirksamkeit

  • Bei regelmässiger Medikamenteneinnahme ist die PrEP in weit über 90 % wirksam (26–28).

6.2. Postexpositionsprophylaxe (PEP)

  • Eine Postexpositionsprophylaxe sollte nur nach sorgfältiger Risikoabklärung erfolgen (Nebenwirkungs-/Interaktionspotential und hohe Kosten bei geringem Nutzen, wenn eine Infektion sehr unwahrscheinlich ist!).

Wann wird eine PEP empfohlen? 

  • Nach ungeschütztem Anal- oder Vaginalverkehr mit einer bekannterweise HIV-positiven Person, sofern deren Viruslast nicht vollständig supprimiert ist. Nach ungeschütztem Anal- oder Vaginalverkehr mit einem/einer Sexpartner/-in, der/die einer Gruppe mit hoher HIV-Prävalenz angehört. Risikogruppen: HIV-Hochprävalenzländer, Sexarbeiterinnnen aus Osteuropa, MSM, intravenös Drogen konsumierende Personen (IVDA)
  • Nach Sexualdelikt kann eine PEP angeboten werden, auch bei unbekanntem HIV-Status. Stellt sich der Täter als HIV-negativ heraus, wird die PEP abgebrochen (31)
  • Bei beruflicher Exposition nach genauer Risikoabwägung. Bei Exposition von Schleimhäuten oder lädierter Haut –> individuell entscheiden; bei Exposition von gesunder Haut –> keine Indikation.

Wann wird eine PEP nicht empfohlen?

  • Bei ungeschütztem heterosexuellen Vaginal-/Analverkehr mit Partner/-in mit unbekanntem HIV-Status, der/die keiner Risikogruppe angehört
  • Bei ungeschütztem oralen Geschlechtsverkehr ohne Ejakulation in den Mund
  • Zur PEP nach ungeschütztem Oralverkehr mit Ejakulation existieren unterschiedliche Empfehlungen. Bisher sind nur sehr wenige Übertragungen dokumentiert worden (–> geschätztes penil-orales Übertragungsrisiko: 4 Infektionen bei 10‘000 Expositionen UpToDate 10/2020)
    • In Deutschland und Österreich wird bei ungeschütztem Oralverkehr mit HIV-infiziertem Partner wegen zu geringen Risikos grundsätzlich keine PEP empfohlen (12)
    • Laut BAG kann eine PEP bei Aufnahme von Sperma in den Mund erwogen werden (13)
    • Gemäss Guideline des Kantonsspitals St. Gallen (KSSG) besteht auch eine PEP-Indikation bei Ejakulation in den Mund, wenn die Quelle HIV-positiv ist und eine nachweisbare Viruslast besteht (32).

Praktisches Vorgehen nach Exposition

  • Die PEP sollte so rasch wie möglich (innert 6–8 h) erfolgen, spätestens aber nach 48 h (schon nach ca. 8 h sinken die Erfolgsaussichten). Grundsätzlich wird eine PEP während 4 Wochen mit einer 3er-Kombination mit 2 Nukleosidanaloga und einem Integrase- oder Proteaseinhibitor durchgeführt. Für die Wahl der Substanzen empfehlen wir die Rücksprache mit einem Spezialisten
    • Abgabe „Starterpackung HIV-PEP": enthält je 2 Tabletten TDF/FTC (Truvada®) und Raltegravir (Isentress®) oder Dolutegravir (Tivicay®). Sofort 1 Tablette Truvada® + 1 Tablette Raltegravir bzw. Dolutegravir einnehmen. Nach 12 h nochmals 1 Tablette Truvada und 1 Tablette Raltegravir bzw. Dolutegravir einnehmen. Solche Starter-Packungen sind in der Regel in Tertiär-Spitälern vorrätig.
  • Falls möglich, sollte der Sexualpartner getestet werden, auch nach Beginn der PEP! Diese kann sofort abgebrochen werden, wenn sich der Sexualpartner als nicht HIV-infiziert erweist und keine Risikofaktoren für eine frische HIV-Infektion bestehen
  • Vor Beginn der PEP sollen beim Betroffenen ein 0-Serum abgenommen und folgende Laborparameter bestimmt werden: Hämatogramm, Nieren- und Leberwerte, HBs-Antikörper (falls Impfstatus nicht bekannt)
  • Bei fehlender Impfung und negativen HBs-Antikörpern ist eine Immunisierung gegen Hepatitis B empfohlen. Ein komplettes STD-Screening ist je nach Situation zu erwägen (vgl. [32])
  • Falls die Person bereits in der Vergangenheit Risikoexpositionen gehabt hat oder zu einer Risikogruppe gehört –> HIV-Schnelltest sofort
  • Falls keine Risikoexposition in der Vergangenheit und keine PEP-Indikation vorliegen –> HIV-Schnelltest in 6 Wochen empfohlen
  • Bis zum Ausschluss einer HIV-Infektion sollen die Betroffenen konsequent Safer Sex praktizieren.

Berufliche Exposition

  • Jede Stichverletzung sollte protokolliert, analysiert und dem Unfallversicherer gemeldet werden
  • Da die Zeit drängt, empfiehlt es sich, den Ablauf bei Stichverletzung vorgängig klar schriftlich festzulegen, u. a. muss auch der Zugang zu den Medikamenten geklärt werden (i. d. R. via Notfallstation eines nahegelegenen Spitals, da oft nur 1 Dosis abgegeben werden muss). Der Hepatitis B-Impfstatus sämtlicher Mitarbeiter/-innen sollte jederzeit zugänglich sein
  • Haut sofort mit Seife waschen, dann Desinfektion, Schleimhäute mit reichlich Wasser spülen (Referenz B. Guidelines.ch 05/2018)
    Beachte: Es sollten auch mögliche Übertragungen von Hepatitis B und C bedacht werden!

Verlaufsbeobachtung unter PEP

  • Die klinische Nachkontrolle richtet sich nach den Beschwerden und Problemen der Patienten und wird in der Regel nach 2 und 4 Wochen empfohlen (13) (Laborkontrollen nur wenn klinisch indiziert)
  • Auf konsequente Tabletteneinnahme und mögliche Interaktionen hinweisen, sowie auf Nebenwirkungen der HIV-Medikamente, aber auch auf allfällige Anzeichen einer Primoinfektion
  • 3 Monate nach der Exposition soll die HIV-Serologie kontrolliert werden (BAG-Empfehlung).

 

7. Hausärztliche Betreuung von HIV-Infizierten (6)

  • Unter einer lebenslangen ART hat heute die Mehrheit der HIV-infizierten Menschen eine fast normale Lebenserwartung
  • Behandlung und Betreuung von HIV-Patienten verlangen grosse Erfahrung und liegen deshalb primär in der Hand des HIV-Spezialisten und sind nicht Gegenstand dieser Guideline. Zur aktuellen ART sowie zu medikamentösen Interaktionen siehe EACS-Guidelines (Stand 11/2019).

Die Rolle des Hausarztes/der Hausärztin

  • Wichtigste Aufgabe ist die (Früh-)Diagnose einer HIV-Infektion („An HIV denken und testen")
  • Bei der Betreuung von HIV-Patienten ist eine gute Kooperation mit dem Spezialisten erforderlich
  • In der Betreuung von HIV-Patienten ist folgendes zu beachten
    • Therapietreue ansprechen und ggfls. Hindernisse/Probleme bei der Tabletteneinnahme (z. B. Nebenwirkungen, mangelnde Motivation) diskutieren und Lösungswege erörtern
    • Komorbiditäten abklären und (mit-)behandeln. Langjährige HIV-Patienten leiden häufiger an chronischen Erkrankungen wie KHK, Nieren- und Leberkrankheiten, Osteoporose, gewissen Neoplasien und neurokognitiven Dysfunktionen
    • Vor jeder neuen Medikamentenverordnung –> allfällige Interaktionen mit ART abklären durch Rücksprache mit dem HIV-Spezialisten oder auf University of Liverpool
    • Selbst harmlose Präparate wie Magnesium oder Eisenpräparate können z. B. bei gleichzeitiger Einnahme mit Integrasehemmern zu Wechselwirkungen führen. Auch Antazida, Histaminantagonisten und PPI sind je nach ART kontraindiziert. Problemlos sind i. d. R. Analgetika wie Paracetamol oder NSAR.

 

8. HIV und Recht (15)

  • Ein HIV-Test darf nur mit Wissen des Patienten durchgeführt werden. Bei Ablehnung des Einverständnisses darf kein Test durchgeführt werden. Ist der Patient nicht urteilsfähig und war er dies auch zu einem früheren Zeitpunkt nicht, gibt der gesetzliche Vertreter die Einwilligung in einen HIV-Test. War der Patient zu einem früheren Zeitpunkt urteilsfähig und ist es ihm nun nicht mehr möglich, seinen Willen zu äussern, so muss sein mutmasslicher Wille eruiert werden
  • Vor der Durchführung eines HIV-Tests genügt die mündliche Information, dass auf HIV getestet wird. Es braucht vor dem Test keine schriftliche Einverständniserklärung
  • Es ist wichtig, das ärztliche Berufsgeheimnis gemäss Art. 321 Strafgesetzbuch einzuhalten, wobei es folgende Ausnahmen zu beachten gilt
    • Der Patient kann dem Arzt erlauben, Drittpersonen über das Vorliegen einer HIV-Infektion zu informieren (evtl. im Gespräch zu dritt in der Sprechstunde)
    • Wenn der Patient seinen Partner nicht selbst für den Arzt nachprüfbar informiert und dem Arzt die Einwilligung dafür nicht gibt, kann sich der Arzt von der kantonalen Gesundheitsdirektion vom Patientengeheimnis entbinden lassen. Vom Patientengeheimnis wird entbunden, wenn ein Paar in fester Beziehung lebt und der HIV-positive Patient seinen Partner nicht von sich aus informiert oder durch den Arzt informieren lässt
    • Die Erfahrung zeigt, dass die infizierte Person oft doch noch in die Information des Partners einwilligt, wenn der Arzt mitteilt, dass die Situation mit dem Kantonsarzt vorbesprochen wurde und nötigenfalls ein Entbindungsgesuch gestellt wird, das voraussichtlich bewilligt würde.

 

9. Literatur

  1. Quinn TC: Global epidemiology of HIV infection. Uptodate 10/2020.
  2. HIV- und STI-Fallzahlen 2014: Berichterstattung, Analysen und Trends. BAG-Bulletin 21, Mai 2015.
  3. Aberg JA, Daskalakis DC: Nonoccupational exposure to HIV in adults. Uptodate 10/2020.
  4. Sexual transmission of HIV according to viral load and antiretroviral therapy: systematic review and meta-analysis. AIDS. 2009;23(11):1397.
  5. Maartens G, et al.: HIV infection: epidemiology, pathogenesis, treatment, and prevention. Lancet Volume 384, No. 9939, p258–271, 19 July 2014 Lancet 2017.
  6. Tarr P, et al.: HIV-Infektion. Update 2015 für Hausärzte. Swiss Medical Forum 2015;15 (20-21):479-485.
  7. Cohen MS: HIV infection: Risk factors and prevention strategies. Uptodate10/2020.
  8. Gray R: The effectiveness of male circumcision for HIV prevention and effects on risk behaviors in a posttrial follow-up study. 2012 Mar;26(5):609-15.
  9. Donnell D, et al.: Heterosexual HIV-1 transmission after initiation of antiretroviral therapy: a prospective cohort analysis. 2010;375(9731):2092.
  10. Sax PE: The natural history and clinical features of HIV infection in adults and adolescents. Uptodate 10/2020.
  11. Der HIV-Test auf Initiative des Arztes/der Ärztin. BAG-Bulletin 21/2015 (18. Mai 2015). BAG-Bulletin 21/2015 (18.Mai 2015).
  12. Deutsch-Österreichische Leitlinien zur Postexpositionellen Prophylaxe der HIV-Infektion. Update 2018.
  13. Notfall HIV-Exposition – PEP kann die richtige Antwort sein. BAG-Bulletin 48/2014 (24.11.2014).
  14. Boffi El Amari, et al.: Eidg. Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG): Postexpositionelle Prophylaxe (PEP) von HIV ausserhalb des Medizinalbereichs. Schweiz Med Forum 2014; 14(8): 151-153.
  15. Binz H, Kuhn HP: HIV und Patientengeheimnis. Schweiz. Ärztezeitung 2006;87:20; 873-74.
  16. Brenner BG, et al.: High rates of forward transmission events after acute/early HIV infection. J Infect Dis. 2007 Apr 1;195(7):951-9. NCBI 04/2007.
  17. CDC 04/2014.
  18. https://clinicalinfo.hiv.gov/en
  19. Karrer U, Nadal D: Epstein-Barr-Virus und infektiöse Mononukleose. Schweiz Med Forum 2014;14(11):226–232.
  20. Battegay M, Hirschel: HIV-Primoinfektion. Therapeutische Umschau 2004; 61(10):609-612.
  21. Empfehlungen der Fachkommission Klinik und Therapie (FKT) zum Beginn der antiretroviralen Therapie
    bei HIV-infizierten Erwachsenen. BAG Bulletin, Bulletin 27, 4. Juli 2011. BAG 07/2011.
  22. EKSG: Neue Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für sexuelle Gesundheit (EKSG) zum diagnostischen Fenster bei HIV-Labortests und HIV-Schnelltests. BAG-Bulletin 40, 1. Oktober 2018.
  23. Robert Koch Institut 07/2015.
  24. Swissmedic 03/2015.
  25. BAG 09/2009.
  26. Tarr P, et al.: HIV-Prä-Expositionsprophylaxe (PrEP). Swiss Medical Forum 2017;17(26–27):579–582.
  27. Deutsch-Österreichische Leitlinien zur HIV-Präexpositionsprophylaxe. AWMF-Register-Nr.: 055-008. 6/2018.
  28. McCormack S, Dunn DT, Desai M, et al.: Pre-exposure prophylaxis to prevent the acquisition of HIV-1 infection (PROUD): effectiveness results from the pilot phase of a pragmatic open-label randomised trial. Lancet. 2015; 387:57–60.
  29. Rodger AJ, et al.: Risk of HIV transmission through condomless sex in serodifferent gay couples with the HIV-positive partner taking suppressive antiretroviral therapy (PARTNER): final results of a multicentre, prospective, observational study. 2019;393(10189):2428. Epub 2019 May 2.
  30. Deutsch-Österreichische Leitlinie zur HIV-Therapie in der Schwangerschaft und bei HIV- exponierten Neugeborenen (2017)
  31. KSSG Guideline: HIV-PEP bei Sexualdelikt HIV-PEP bei Sexualdelikt (Stand: 6/2020)
  32. KSSG Guideline: Postexpositionsprophylaxe (PEP) nach sexuellem Kontakt (non-occupational exposure) (Stand: März 2020)

Links für Ärzte und Betroffene

Schweizer Aidshilfe (Aidshilfe Schweiz) mit Adressen von HIV-Sprechstunden, Beratungszentren, Selbsthilfeorganisationen, Partnervermittlung, Aids-Seelsorge, Rechtsberatung, vielen Broschüren, zu bestellen Aidshilfe Schweiz Onlineshop, Tel. 044 447 11 14.

Aids und Kind leistet finanzielle Direkthilfe an Kinder, Jugendliche und Familien in der CH, die von HIV/IDS betroffen sind. Aids & Kind, Tel. 044 422 57 57.

 

10. Impressum

Diese Guideline wurde im September 2023 aktualisiert.
© Verein mediX schweiz

Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Dr. med. Uwe Beise

Autoren
Prof. Dr. med. Andreas Kronenberg
Dr. med. Uwe Beise
Prof. em. Dr. med Rainer Weber

 

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