Guideline

Harnwegsinfekte Kinder

Erstellt von: Irmela Henrichs, Rolf Solèr Zuletzt revidiert: 06/2023 Letzte Änderung: 06/2023

Aktualisierung 06/2023

  • Diese Guideline wurde vollständig durchgesehen und aktualisiert
  • Antibiotikum der 1. Wahl bei febrilem HWI ist Co-Amoxicillin (–> Kap. 3).

 

1. Ursachen und Unterschiede zum Erwachsenen

HWI haben beim Kind einen ganz anderen Stellenwert als bei Erwachsenen. Es gibt einige wesentliche Unterschiede

  • Oft (30–45 % d. F.) steckt als Risikofaktor eine Fehlbildung der ableitenden Harnwege oder ein ausgeprägter vesikoureteraler Reflux (VUR) dahinter
  • Untere HWI gehen bei Kindern öfter als bei Erwachsenen in obere HWI über
  • Obere HWI führen öfter zu Bakteriämie und Urosepsis als bei Erwachsenen
  • Obere HWI im Kleinkindesalter führen öfter zu Parenchymdefekten (Narben).

All dies ist umso wahrscheinlicher, je jünger das Kind ist.
HWI sind bei Jungen deutlich seltener als bei Mädchen (ca. 1 : 4). Hat ein Junge aber einen febrilen HWI, ist es noch wahrscheinlicher, dass eine Fehlbildung oder ein Reflux vorliegt.
Grundsätzlich gilt

Harnwegsinfekte bei präadoleszenten Kindern sind nicht „normal". Es muss in jedem Fall die Möglichkeit einer Fehlbildung bzw. eines VUR in Betracht gezogen werden. Nicht in jedem Fall ist aber eine vollständige uroradiologische Abklärung notwendig.

Ein weiterer Grund für wiederholte HWI bei etwas älteren Kindern (Kindergarten/Schulkinder) kann eine Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sein. Diese Kinder haben auch im infektfreien Intervall tagsüber Miktionsprobleme wie Pollakisurie, Urge-Inkontinenz etc. Eine Abklärung durch Pädiater/nephrologische Poliklinik ist sinnvoll.

 

2. Primäre Diagnostik – Uringewinnung, Labor und bildgebende Verfahren

2.1. Uringewinnung und -untersuchung, CRP

Ein Mittelstrahlurin auf Anweisung kann meist erst ab dem Kindergartenalter gewonnen werden, der „Säckliurin" ist oft kontaminiert. Zuverlässige Resultate liefern nur Einmalkatheterisierung oder durch Blasenpunktion gewonnener Urin. In der Allgemeinpraxis ist dies jedoch unrealistisch, da beide Methoden etwas Übung erfordern und für die Eltern ziemlich unangenehm aussehen, obwohl v. a. die Blasenpunktion weniger schmerzhaft ist als etwa eine Impfung. Was sind demnach praktikable Methoden zur Uringewinnung?

  • Direktes Auffangen von Urin („clean catch“): Eine gute Methode v. a. bei Säuglingen. Die Mutter (oder der Vater) gibt dem Kind zu trinken, putzt die Region der Urethralmündung mit Cetrimide o. ä. und wartet dann neben dem unten ausgezogenen Kind, bis es uriniert, und fängt den Urin mit einem sterilen Röhrchen auf. Praktisch entspricht dies einem Mittelstrahlurin, da die erste Portion sowieso daneben geht. Klappt meistens innert 30 min, sofern die Betreuungsperson gut aufpasst. Voraussetzung: Ein Platz, an dem Kind und Mutter in Ruhe warten können; Urin kann ev. auch zu Hause abgenommen und dann in die Praxis gebracht werden (sofort!)
  • Mittelstrahlurin auf Aufforderung: Ein Versuch kann gemacht werden bei Kindern, die die Miktion gut kontrollieren können
  • Säckliurin: Wenn es nicht anders geht und als praktikable Methode (nur) zum Ausschluss einer Infektion bei Fieber ohne Fokus: Genitalregion gut reinigen mit Cetrimide o. ä. Säckli nach spätestens 1 h wechseln, wenn kein Urin, nach erneutem Putzen. Einige Lc, Ec und Bakt. sind im Säckliurin normal (s. u.). Sofort nach Miktion entfernen und untersuchen
  • Einmalkatheterisierung: Bei sauberer Durchführung nicht schlechter als eine Blasenpunktion. Kann durchgeführt werden, wenn man ein Kleinkind katheterisieren kann und die Eltern keine Probleme damit haben
  • Blasenpunktion: Sehr zuverlässige Methode, wenn man weiss wie und die Eltern keine Probleme damit haben
  • Zuweisung zur Urinuntersuchung: Bei fraglichem Resultat z. B. aus dem Säckliurin kann man das Kind auch einem Kinderarzt zur Blasenpunktion oder Katheterisierung überweisen.

Beachte

Ein normaler Uristix schliesst einen HWI aus, ein eindeutig positives Resultat (viele Lc, Ec, Nitrit+) ist aussagekräftig, dazwischen liegt ein grosser Graubereich. Die Betrachtung des Uristix-Streifens mit den eigenen Augen ist manchmal aussagekräftiger als die maschinelle Ablesung! Es macht einen Unterschied, ob das Lc-Testfeld innert Sekunden tiefviolett wird oder nach 2 Minuten 2+ (75–250 Lc) anzeigt.
Cave: Enterkokokken können einen Harnwegsinfekt auslösen ohne Leukozyten im Urin

Die Kultur kann einen HWI bestätigen oder ausschliessen: Wachstum > 104 gilt als pathologisch, beim Katheterurin > 103, bei Blasenpunktion jedes Wachstum. Mischkulturen sprechen gegen einen febrilen HWI, ausser bei Säuglingen (E. coli + Enterokokken kommt vor). Wird ein febriler HWI behandelt, ist ein Uricult obligatorisch.
Beachte: Im Praxisalltag soll die empirische Antibiotikatherapie vor dem Eintreffen des Kulturergebnisses begonnen werden: Ein fieberndes Kind mit pathologischem Urin muss behandelt werden, ohne das Kulturergebnis abzuwarten.

Das CRP korreliert stark mit einer Parenchymbeteiligung (Nephritis). Bei positivem Urinbefund und erhöhtem CRP (> 50 mg/l) muss eine Pyelonephritis (PN) angenommen und behandelt werden. Wiederholt tiefe Entzündungsmarker (z. B. CRP < 20 mg/l) sprechen eher gegen die Diagnose einer PN. In einer grossen multizentrischen Pyelonephritisstudie (3) war eine PN bei normalem CRP extrem selten.

Da die Uringewinnung oft mühselig und auch nach Stunden erfolglos sein kann, darf diese unserer Meinung nach bei tiefem CRP und gutem AZ auf den nächsten Tag verschoben werden – wenn dann noch Fieber besteht bei weiterhin unklarem Fokus.

2.2. Bildgebende Verfahren (1, 2)

1. Sonographie: Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass eine Sonographie in der akuten Erkrankung eine Nephritis weder sicher beweisen noch ausschliessen kann. Dies gilt auch für einen vesikoureteralen Reflux. Nur grobe Fehlbildungen mit Stauung werden sicher erkannt. Diese können jedoch nach der Behandlung der akuten Erkrankung diagnostiziert werden oder sind bereits bekannt aufgrund der Ultraschalluntersuchungen während der Schwangerschaft. Eine Sonographie wird bei allen Kindern nach der ersten Pyelonephritis empfohlen –> s. a. SGInf.

2. DMSA-Szintigraphie (oder MRI): Nur diese Untersuchungen können eine Parenchymbeteiligung (Nephritis) sicher ausschliessen/beweisen. Dies hat initial aber keine therapeutischen Konsequenzen, da jeder febrile HWI antibiotisch behandelt werden muss. Die DMSA-Szintigraphie (oder das MRI) wird heute nicht mehr eingesetzt. Bei komplexen Fehlbildungen des Harntraktes wird zunehmend die MRU (MR Urography) eingesetzt (4).

3. Miktionszystourethrographie (MCUG): In der akuten Phase nicht sinnvoll, da wegen der Entzündung oft falsch negative oder falsch positive Befunde.
Indikation: CAKUT* und/oder Dilatation der Harnwege nach Ultraschalluntersuchung, pathologischer Urinabfluss, nicht durch Dehydratation bedingte Oligurie, Harnverhalt, Infektion mit Non-E. coli Erregern, rezidivierende PN –> s. a. SGInf.
* CAKUT = Congenital anomalies of the kidney and urinary tract

4. Miktionsurosonographie (MUS): Die MUS ist eine strahlenfreie Ultraschalluntersuchung, bei der unter Zuhilfenahme von Kontrastmittel überprüft werden kann, ob ein VUR vorliegt.  Bei Jungen kann diese Methode posteriore Urethralklappen jedoch nicht ausschliessen.
Indikationen: Auffälliger Sonographiebefund, Non-E. coli-Infektionen und mehr als 2 HWIs.

 

3. Therapie (1, 2)

  • Viele Kinder können vom HA erfolgreich oral behandelt werden
  • Säuglinge unter 3 Monaten müssen stationär intravenös behandelt werden.

mediX empfiehlt

Kinder über 3 Monate mit febrilen HWI primär oral behandeln, sofern ein guter Allgemeinzustand, keine Sepsis oder Trink- und/oder Medikamentenverweigerung vorliegen und eine Verlaufskontrolle durch Konsultation innert 24–48 h stattfindet.

Antibiotika (empirische Behandlung)

  • Afebrile HWI: TMP-SMX (2 x 3–5 mg/kgKG/Dosis) oder Co-Amoxicillin (2 x 25 mg/kgKG/Dosis) oral für 3 d
  • Febrile HWI: Co-Amoxicillin 2 x tgl. 40 mg/kgKG für 7–10 d
    Hinweis: Podomexef® (Cephalosporin der 3. Generation) galt bislang als Antibiotikum der 1. Wahl bei febrilen HWI, ist seit August 2022 aber nicht mehr im Handel.

Lokale Resistenzprofile bei der Auswahl der empirischen Therapie berücksichtigen:
–> vgl. anresis.ch.

Siehe auchmediX GL Infektiologie – Therapieempfehlungen.

 

4. Diagnostik nach Abheilung

  • Bei Kleinkindern ist eine Ultraschalluntersuchung nach Abheilung eines febrilen HWI indiziert. Es geht darum, Fehlbildungen der ableitenden Harnwege soweit möglich auszuschliessen. Eine Abflussbehinderung z. B. bei Ureterabgangs- oder -mündungsstenose, Doppelureteren mit Stauung u. a. führen wegen des verlangsamten Flusses im Ureter zu erhöhtem Risiko für aufsteigende HWI
  • Die häufigste Ursache ist aber ein vesikoureteraler Reflux, der im Ultraschall oft nicht erkannt werden kann. Dafür ist ein MCUG oder eine MRU nötig – primär nur bei Mädchen
    < 4 Jahren oder Knaben < 2 Jahren, da bei Älteren auch bei VUR keine Prophylaxe oder Operation empfohlen wird. 

 

5. Antibiotika-Dauerprophylaxe

  • Im Allgemeinen wird von einer Antibiotika-Dauerprophylaxe abgeraten (ausser bis zum Zeitpunkt einer geplanten MCUG)!
  • Bei bestimmten Harnwegsfehlbildungen und vor allem beim VUR ist das Wiederholungsrisiko für Pyelonephritiden relativ hoch. Häufige Pyelonephritiden können zur Funktionseinschränkung der Nieren (im Extremfall bis zur Insuffizienz) führen
  • Kann-Indikationen zur AB-Dauerprophylaxe
    • Kinder mit komplexer CAKUT oder mit zugrundeliegender Blasenfunktionsstörung (nach interdisziplinärem – pädiatrische Nephrologie/Urologie/Infektiologie – Konsilium)
    • Kleinkinder mit hochgradigem VUR (IV-V), bis der VUR verschwunden ist (das geschieht meist spontan). Es wurde jedoch gezeigt, dass die Prophylaxe das Rezidivrisiko bei Kindern mit persistierendem VUR ab einem bestimmten Alter nicht mehr senkt – bei Knaben ab 2–4 Jahren, bei Mädchen ab 4–6 Jahren. Die Prophylaxe kann deshalb ab 2 (Knaben) bzw. 4 (Mädchen) Jahren gestoppt werden, bei nicht mehr nachweisbarem Reflux (im MCUG) schon vorher.
  • Es gibt keine evidenzbasierten Leitlinien zur Dauer der Antibiotikaprophylaxe. Die Indikation sollte nach 6–12 Monaten (oder auch früher) nach klinischem Verlauf und der bildgebenden Nachsorge überprüft werden
  • Die Prophylaxe soll mit Sulfamethoxazol/Trimethoprim (Nopil®) erfolgen
    • 1,5 mg/kgKG 2 x tgl. für Kinder, die noch Windeln tragen
    • 2 mg/kgKG 1 x tgl. abends per os für Kinder, die keine Windeln mehr tragen.

Antimikrobielle Dosierungen –> swisspeddose.ch. Um die Entwicklung von Resistenzen zu verhindern, sollten Beta-Laktam- und Chinolon-Antibiotika nicht verwendet werden.

 

6. Literatur

  1. Konsensusempfehlungen zur Behandlung von Harnwegsinektionen bei Kindern und Jugendlichen in der Schweiz.
  2. Shaikh N, Hobermann A: Urinary tract infections in infants older than one month and young children: Acute management, imaging, and prognosis. UpToDate, aufgerufen 03/2023.
  3. Neuhaus T, Buechner K, Berger C, et al.: Randomized trial of oral versus sequential intravenous/oral cephalosporines in children with pyelonephritis Eur J Pediatr 2008; 167:1037-1047.
  4. Damasio MB, et al.: Comparative Study Between Functional MR Urography and Renal Scintigraphy to Evaluate Drainage Curves and Split Renal Function in Children With Congenital Anomalies of Kidney and Urinary Tract (CAKUT). Front Pediatr. 2020 Jan 28;7:527. doi: 10.3389/fped.2019.00527. PMID: 32047727; PMCID: PMC6997479.

 

7. Impressum

Diese Guideline wurde zuletzt aktualisiert im Juni 2023.
© Verein mediX schweiz

Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Uwe Beise
Dr. med. Maria Huber

Autoren
Dr. med. Irmela Henrichs
Dr. med. Rolf Solèr

Diese Guideline wurde ohne externe Einflussnahme unter Mitarbeit aller regionalen mediX Ärztenetze und assozierter Ärztenetze in der Schweiz erstellt. Es bestehen keine finanziellen oder inhaltlichen Abhängigkeiten gegenüber der Industrie oder anderen Einrichtungen oder Interessengruppen.

mediX Guidelines enthalten therapeutische Handlungsempfehlungen für bestimmte Beschwerdebilder oder Behandlungssituationen. Jeder Patient/jede Patientin muss jedoch nach den individuellen Gegebenheiten behandelt werden.

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