Guideline

Harninkontinenz des Mannes

Erstellt von: Marko Kozomara-Hocke Zuletzt revidiert: 10/2023 Letzte Änderung: 10/2023

Hinweis

Zur Harninkontinenz der Frau liegt eine eigene mediX Guideline vor.

 

1. Definition und Epidemiologie (1-3)

Definition

  • Bei der Harninkontinenz (Urininkontinenz) handelt es sich um einen unwillkürlichen Urinverlust, der sowohl ein hygienisches als auch soziales Problem für die betroffene Person darstellt (1).

Epidemiologie

  • Harninkontinenz stellt ein gravierendes Gesundheitsproblem mit physischen, psychischen und sozialen Folgen dar, die zu erheblichen Beeinträchtigungen der Lebensqualität der Betroffenen führen können (2)
  • Die Prävalenz ist nicht sicher bestimmbar, da eine erhebliche Dunkelziffer nicht erfasst wird. Internationale Studien weisen eine Prävalenz von 4 bis 44 % aus (Mittel: 23 %) auch abhängig vom Alter bei Diagnosestellung. Daten aus der Schweiz: Knapp jede fünfte Person ist im Alter von Harninkontinenz betroffen (17 %), Männer sind seltener betroffen (v. a. bzgl. Belastungsinkontinenz), der Anteil steigt mit zunehmendem Alter, in Pflegeheimen ist die Prävalenz am höchsten (20)
  • Die Harninkontinenz-Prävalenz bei Männern > 80 J. beträgt ca. 32 %.

 

2. Formen der Harninkontinenz (4, 7)

Dranginkontinenz

Liegt vor, wenn es zum Urinverlust im Rahmen der Drangsymptomatik kommt. Es handelt sich um eine insuffiziente Blasenfunktion bei meist normalem Schliessmuskel
Kann assoziiert sein mit Symptomen wie Nykturie oder erhöhte Miktionsfrequenz.

Belastungsinkontinenz

Liegt vor, wenn es bei körperlicher Belastung mit erhöhtem Abdominaldruck zum Urinverlust kommt.
Es liegt eine insuffiziente Funktion des inneren und/oder äusseren Schliessmuskels vor. Der früher gebräuchliche Begriff der Stressinkontinenz sollte im deutschsprachigen Raum nicht mehr verwendet werden (5, 6).

Mischinkontinenz

Liegt vor, wenn der Mann sowohl Symptome einer Belastungs- als auch Dranginkontinenz beschreibt.

Überlaufinkontinenz

Hierbei kommt es wegen subvesikaler Obstruktion oder eingeschränkter Detrusorfunktion immer wieder zum Abgang von kleineren Urinmengen aus der maximal gefüllten Blase.

Nachträufeln

Liegt vor, wenn nach abgeschlossener Blasenentleerung unbeabsichtigt einige Tropfen oder ein Schwall Urin aus der Harnröhre fliessen.
Meist idiopathisch oder im Zusammenhang mit LUTS (lower urinary tract symptoms), selten durch Urethrastriktur oder Hypospadie.

 

3. Ursachen der Harninkontinenz (4, 7)

Es können verschiedene Ursachen für eine Urininkontinenz vorliegen. Je nach Funktionsveränderung kann es zu einer der o. g. Inkontinenzformen kommen.

  • Prostatasyndrom (früher: Benigne Prostatahyperplasie, BPH): Es findet sich in 40–80 % eine Detrusorüberaktivität, welche zur Drangsymptomatik aber auch Dranginkontinenz führen kann.
    Postoperativ kann je nach Studienlage eine Belastungsinkontinenz in bis zu 3 % auftreten
  • Prostatakarzinom (Behandlungsfolge): Sowohl nach radikaler Prostatektomie als auch nach Bestrahlung des Prostatakarzinoms kann es im Langzeitverlauf zur einer Belastungs- und/oder Dranginkontinenz kommen – in bis zu 11 % bzw. 19 %. Eine schwere Urininkontinenz persistiert nur in wenigen Fällen
  • Delir: Eingeschränkte zentralnervöse Kontrolle der Blasenfunktion und hierdurch Urininkontinenz
  • Harnwegsinfekte: Nebst den häufigen Symptomen wie Drang, Pollakisurie und Algurie, kann es auch zu Urininkontinenz (v. a. Dranginkontinenz) kommen
  • Medikamente: Viele Medikamente mit anticholinerger Wirkung (siehe Tabelle A1 im Anhang) können zur Erhöhung der Restharnmenge beitragen, wodurch eine Belastungsinkontinenz verstärkt werden kann
  • Diurese und eingeschränkte Mobilität: Zu den Ursachen einer gesteigerten Diurese zählen neben der Einnahme bestimmter Medikamente (z. B. Diuretika, Lithium), Getränke (Alkohol, Kaffee, usw.) und Speisen auch ein unangepasstes Trinkverhalten, sowie diverse Komorbiditäten aus dem kardialen, pulmonalen, metabolischen (z. B. Diabetes) oder nephrologischen Formenkreis
  • Urothelkarzinom der Blase: Infiltration des Karzinoms in Schliessmuskel und/oder Reizung der Blasenschleimhaut
  • Neurologische und rheumatoide Erkrankungen: Alle Erkrankungen, welche zu Veränderungen/Läsion des zentralen oder peripheren Nervensystems führen (Rückenmarksverletzungen oder Kompression von Nerven, Multiple Sklerose, Alzheimer, Parkinson, zerebrovaskuläre Verschlusskrankheit usw.) sind mit einem erhöhten Risiko der Urininkontinenz assoziiert
  • Alter und Übergewicht: Mit zunehmendem Alter und Gewicht steigt die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer (primären) Urininkontinenz.

 

4. Basisdiagnostik

Anamnese

Das Thema der Urininkontinenz sollte aus ärztlicher Sicht unbedingt angesprochen werden, um so das Tabu zu durchbrechen. Die Betroffenen sprechen selten von sich aus hierüber.
Beim betagten Mann sollte gezielt nach möglichen Inkontinenzproblemen gefragt werden. Gegebenenfalls hilft die Fremdanamnese weiter. Ein sehr wichtiger Aspekt ist die Einschränkung der Lebensqualität. Denn diese definiert oft, wie weit eine Therapie gehen soll.

Die ausführliche Anamnese sollte folgende Aspekte umfassen

Inkontinenzproblematik

  • Seit wann?
  • Wie oft?
  • Einschränkung der Lebensqualität?
  • Unter welchen Umständen? Triggersituationen?
    Dranginkontinenz: Mit dem Urinverlust plötzlich aufkommende Drangsymptome? Wird die Toilette nicht rechtzeitig erreicht?
    Belastungsinkontinenz: Urinverlust beim Lachen, Husten, Niesen, Heben, Tragen, Tanzen, Joggen oder Laufen?
  • Nykturie?
  • Zusätzliche Miktionsprobleme (Startschwierigkeiten, Harnstrahlqualität, intermittierender Miktionsverlauf, Einsatz der Bauchpresse, Dysurie/Algurie);
  • Defäkationsprobleme/Stuhlinkontinenz?
  • Zirkadiane Trinkmengenverteilung und Art der Getränke?
  • Wann/Unter welchen Umständen wird es besser oder schlechter?
  • Bisherige Therapieversuche?

Medikamentenanamnese

  • Beurteilen der antimuskarinergen Last bei Polypharmazie, da entsprechende Medikamente die Harninkontinenz begünstigen (siehe Tabelle A1 im Anhang).

Gesundheitsstatus

  • Übergewicht
  • Mobilität
  • Schmerzen
  • Harnwegsinfekt
  • Makrohämaturie
  • Kognitive Funktionen.

Vor-/Begleiterkrankungen

  • Operationen im kleinen Becken (z. B. Prostatektomie, Rektumresektion)
  • Bekanntes Prostatasyndrom/LUTS
  • Kardiale, neurologische Erkrankungen, metabolische Erkrankungen (z. B. Diabetes mellitus).

Unterstützend können Fragebögen eingesetzt werden, z.B. der ICIQ-UI-SF (Kurzform) oder der IPSS.
Beide Fragebögen sind in verschiedenen Sprachen erhältlich.

Anmerkungen
Beide Fragebögen dienen vor allem der Bestandesaufnahme und der Verlaufskontrolle
IPSS: Ab einem Wert von 10 kann eine Therapie diskutiert werden, ab 20 liegt eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität vor und eine Therapie wird empfohlen.

ICIQ-SF
IPSS deutsch
IPSS français
IPSS italiano
IPSS english

Körperliche Untersuchung

  • Äusseres Genitale auf Hautirritationen
  • Rektal: Konsistenz, Sensibilität und Muskelfunktion (Tonus, Beckenbodenfunktion) sowie Grösse der Prostata und Inspektion perianale Region (Hinweise für eine begleitenden Stuhlinkontinenzproblematik?)
  • Palpation Abdomen/Blase (nach Harnentleerung)
  • Neurologische Untersuchung: Reflexe im Becken (Analreflex, Bulbocavernosus-Relfex) sowie die Sensibilität im Reithosengebiet testen. Sie dienen der Unterscheidung zwischen Läsion des oberen oder unteren Motoneurons (21).

Blasentagebuch

  • Simple, aber für die Patienten teilweise aufwendige Methode. Das Trinkverhalten, der Drang und die Einlagen können unter anderem objektiver beurteilt werden.
  • Das Blasen-Tagebuch sollte über 2–3 aufeinanderfolgende Tage geführt werden.
    –> mediX Blasentagebuch.

Labor

  • Urin-Streifentest, ev. Urinsediment/Kultur zum Ausschluss von Proteinurie, Glukosurie, Mikrohämaturie
  • Blutuntersuchung: HbA1c, Kreatinin, TSH, Natrium – je nach Verdachtsdiagnose

    Hinweis: Symptomatische HWI sollen behandelt werden, eine asymptomatische Bakteriurie nicht. Diese kann in bis zu 20 % aller Menschen vorliegen (siehe auch mediX GL HWI). Ein Screening bei Patienten ohne Anzeichen eines HWI ist nicht sinnvoll.

    Wenn aber bei einer Urininkontinenz Bakterien nachgewiesen werden, könnten diese ursächlich verantwortlich sein. Erst nach einer resistenzgerechten Behandlung kann eine Bakteriurie als Ursache definitiv ausgeschlossen werden.

  • PSA-Bestimmung
    • Urininkontinenz ist kein direktes Zeichen für ein Prostatakarzinom. Allerdings kann eine veränderte Prostata im Rahmen des Prostatakrebses zu Drangsymptomatik und Dranginkontinenz führen. Ein erhöhter PSA-Wert würde auf eine entsprechende Problematik hinweisen. Die PSA-Messung kann mit dem Patienten diskutiert und je nach Situation durchgeführt werden
    • Falls aktuellere PSA-Werte vorliegen und unauffällig waren, kann eine erneute Kontrolle anlässlich der Inkontinenz mit dem Patienten diskutiert werden.
      Zum Stellenwert der PSA-Messung siehe auch medix GL Check-up.

Restharnbestimmung

Definition: Urinmenge, welche nach dem willkürlichen Wasserlösen in der Blase verbleibt.

  • Wichtige Fakten zum Restharn (8–12)
    • Es gibt keine obere Grenze für Restharn gemäss den Urologischen Guidelines. Von grösseren Restharnmengen spricht man bei > 200 ml
    • Bei Prostatavolumina von > 30 ml steigt das Risiko um das 2,5 fache für eine Restharnbildung
    • Der Restharn nimmt durchschnittlich um 2–3 % pro Jahr zu, die Miktionsvolumina nehmen um 2–3 % ab
    • Bei einem prominenten Prostata-Mittellappen kann es eher zur Restharnbildung kommen
    • Das Risiko für eine Harnverhaltung scheint bei einem Restharn von > 50 ml um das 3–4-fache erhöht zu sein. Der Restharn als solches ist aber kein Prädiktor für eine Harnverhaltung
    • Prostatasymptome sind keine Prädiktoren für Restharnbildung
    • Ein Restharn kann aber ein Zeichen für eine pathologische Blasenfunktion oder ein Prostatasyndrom sein.
      Ein erhöhter Restharn ist nicht gleichzusetzen mit einer Überlaufinkontinenz. Bei dieser kommt es zu keiner spontanen Blasenentleerung. Die Entleerung erfolgt unwillkürlich im Rahmen der Urininkontinenz.
      Die Kenntnis über eventuell vorliegenden Restharn ist relevant, da je nach Therapie der Urininkontinenz dieser kontrolliert werden sollte.
  • Bestimmungsmethode
    Primär sonographisch; alternativ: Einmalkatheterisierung (selten nötig). Bei pathologischen Werten wiederholen.
    Vorgehen Sonographie
    • Ultraschall bei gefüllter Blase (um allfällige Steine oder grössere Blasentumore besser erkennen zu können), anschliessend Blase entleeren und sofort nochmals schallen zur Restharnbestimmung
    • Zur Quantifizierung am genauesten ist die Flächenmessung in 2 Ebenen. Wichtig ist dabei, dass das ap- und das seitliche Bild in einem Winkel von 90 ° zueinander stehen.

 

5. Überweisung an SpezialistIn

Die Diagnose und Therapie kann in vielen Fällen (zunächst) hausärztlich erfolgen. Eine Überweisung an einen Urologen zur (Mit-)behandlung ist in folgenden Situationen sinnvoll

  • Bei Verdacht auf Karzinom (Hämaturie, PSA erhöht etc.)
  • Bei rezidivierenden Harnwegsinfekten
  • St. n. Prostata-Op, Operationen im Urogenitalbereich, Bestrahlung
  • Bei nicht erfolgreicher konservativer hausärztlicher Basistherapie
  • Bei nicht therapierbaren und persistierenden Schmerzen im Becken
  • Bei kontinuierlichem Urinverlust bei erschwerter Miktion, Restharnbildung sowie vermuteter oder diagnostizierter neurologischer Grunderkrankung
  • Überlaufblase mit problematischer Einlage eines Dauerkatheters (zur allfälligen Überbrückung bis zur operativen Sanierung)
  • Indikationsstellung für allfällige operative Therapie.

Zur spezialärztlichen Abklärung kommen folgende Verfahren in Betracht

Urodynamische Untersuchung

  • Indikationen
    • Neurogen bedingte Blasenfunktionsstörung
    • Bei konservativen und medikamentösem Therapieversagen und vor weiterführender Therapie wie Neuromodulation oder Botox-Injektionen
    • Je nach Ursache auch vor einem geplanten operativen Eingriff.
  • Generell soll eine urodynamische Untersuchung nur durchgeführt werden, wenn aus den Ergebnissen eine therapeutische Konsequenz zu erwarten ist. Wichtig ist, dass eine Urodynamik auch als erweiterte Diagnostik im Rahmen eines „shared decision making“ eingesetzt werden kann.

    Wichtig: Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollte ein symptomatischer Harnwegsinfekt ausgeschlossen und behandelt werden. Eine asymptomatische Bakteriurie bedarf keiner Therapie. Diese kann in bis zu 20 % aller Menschen vorliegen (siehe auch mediX GL HWI Erwachsene).

Urethrozystoskopie

  • Indikation (Auswahl)
    • Überaktive Blase: Tumor- oder Steinausschluss (kleine Steine oder rasenflächige Tumoren können im Ultraschall nicht zuverlässig erkannt werden)
    • Mikro-/Makrohämaturieabklärung
    • Rezidivierenden HWI
    • Harnröhrenstriktur
    • Blasenhalssklerose

Röntgen/Computertomographie/MRI

  • Nur bei spezieller Indikation und/oder in Rücksprache mit dem Spezialisten.

 

6. Therapie

Grundsätzliches

  • Wenn eine Grunderkrankung (Prostatasyndrom, Herzinsuffizienz, Harnwegsinfekt usw.) vorliegt, dann sollte diese zuerst behandelt werden.

Folgende Basistherapien können bereits vor der Überweisung an UrologIn in Abhängigkeit von der Diagnostik und vorliegenden Problematik eingesetzt werden

6.1. Konservative Behandlungsverfahren (4, 7)

⇒ Belastungsinkontinenz –> Beckenbodentraining/Beckenbodenphysiotherapie
⇒ Dranginkontinenz –> Blasentraining, Beckenbodentraining/Beckenbodenphysiotherapie
⇒ Mischharninkontinenz –> Klinisch dominante Inkontinenzform als erstes behandeln.

Es gibt gute Studien, welche beweisen, dass entsprechendes Training bei Frauen mit Harninkontinenz helfen
(–> mediX GL Harninkontinenz der Frau). Ob dies ohne Einschränkung auf den Mann übertragbar ist, ist unbekannt, da keine entsprechenden Studien vorliegen.

Blasen- und Beckenbodentraining, Elektrostimulation

Blasentraining (BT), Verhaltenstherapie

  • Hilft, den unzeitgemässen Harndrang zu kontrollieren, v. a. bei Drang- und Mischinkontinenz zuerst anbieten. Kann auch gut mit Beckenbodentraining kombiniert werden
    • Ziele: Fehlerhafte Gewohnheitsmuster beim Urinieren korrigieren, Kontrolle über die Dranginkontinenz erlangen, die Entleerungsintervalle verlängern, die Blasenkapazität vergrössern, Inkontinenzvorfälle reduzieren und das Vertrauen der Patienten in ihre Fähigkeit verstärken, sodass sie ihre Blasenfunktion selbst kontrollieren können
    • Inhalte: Trinktraining: 2 l Ausscheidung anstreben; Reduktion koffeinhaltiger Getränke Alkohol, Kohlensäure; Blasentraining: Aktives Hinauszögern der Miktion durch Ablenkungsmanöver und Beckenbodeneinsatz.

Beckenbodentraining (BBT)

  • BBT wirkt bei Belastungsinkontinenz, Dranginkontinenz und Mischinkontinenz.
    Hinweise
    • Ein wichtiger Faktor ist die Funktionskontrolle des Beckenbodens durch den Patienten. Je nach dem kann man ihn für ein Selbsttraining zu Hause instruieren
    • Ziel ist es, dass sich der Patient im Alltag Erinnerungstrigger schafft und den BB sowohl kurz und kräftig als auch über 10 sec anspannen kann
    • Bei ungenügender Funktion/Besserung ist physiotherapeutisch assistiertes BB-Training indiziert
    • Das Training soll mindestens 3 Monate lang durchgeführt werden.

Elektrostimulation/Akkupunktur (18, 19)

  • Biofeedback kommt zur Anwendung, wenn der Patient eine ungenügend koordinierte BB-Kontraktion ausführen kann –> v. a. Belastungsinkontinenz nach Prostatektomie
  • Es können die verschiedenen Formen der Transkutanen Elektromodulation (TENS-ES) eingesetzt werden.

    Anmerkung: Bei den TENS-ES handelt es sich um einen Oberbegriff für verschiedene Formen der transkutanen Neuromodulation, z. B. die transkutane tibiale Nervenstimulation (TTNS) oder Positionierung der Elektroden über dem Os sacrum. Der Ort der Modulation kann durch den Therapeuten gewählt werden.

  • Die Verwendung der TENS-ES und das Biofeedback sollte jeweils auf dem Physiotherapieblatt erwähnt/verordnet werden als zu vermietende Geräte
  • Zu Akupunktur gibt es wenig Daten zur Wirksamkeit und auch nur bei Frauen.

Ein/e entsprechende/r Therapeut/in kann auf www.pelvisuisse.ch gefunden werden.

Lifestyle-Massnahmen

  • Körpergewicht reduzieren: Gewichtreduktion reduziert Inkontinenzfrequenz
  • Koffeinkonsum (Kaffee, Schwarztee, Grüntee, Energydrinks, Cola, Eistee) sowie Alkohol und unverdünnte Fruchtsäfte reduzieren: Hilft bei imperativem Harndrang und Pollakisurie, hat jedoch keinen Einfluss auf Belastungsinkontinenz
  • Kohlensäurehaltige Getränke reduzieren, z. B. auf Leitungswasser umstellen
  • Flüssigkeitszufuhr normalisieren: Empfehlung ca. 2 l, mehr als 3 Liter sind problematisch, weniger als 1 Liter auch. Es sollte auch auf die Verteilung im Tagesverlauf geachtet werden. Anhand des Blasentagebuchs kann abgeklärt werden, ob die Nykturie Folge erhöhter abendlicher Trinkmenge ist.

Kondomurinale/Inkontinenzvorlagen/Katheterisierung

  • Kondomurinale: Bei Patienten ohne eine relevante Blasenentleerungsstörung. Voraussetzungen sind eine ausreichende Penislänge sowie -umfang, eine gesunde Penishaut und ausreichendes manuelles Geschick
  • Penisklemme: Bei Stressinkontinenz und normaler Blasenkapazität bzw. -Compliance. Meist nur zur temporären Anwendung (Kinobesuch etc.)
  • Inkontinenzvorlagen: Wichtige Option, können die Sicherheit im Alltag zurückgeben
  • Katheterisierung: Eine Überlaufblase sollte durch den Spezialisten abgeklärt werden. Je nach Ursache können die Dauerkatheterisierung oder intermittierende Katheterisierung als Therapieoption diskutiert werden. Fremdkörper im Sinne von Kathetern sollten wenn immer möglich vermieden werden, sind jedoch in bestimmten Situationen erforderlich.

Hinweis: Eine gute und in der gesamten Schweiz erhältliche Beratung bieten lokale Kontinenz- und Stomaberatungen oder Firmen wie die publicare AG, welche auch eine telefonische Beratung und Zusendung von hilfreichen Materialien bieten.
Bei Unklarheiten können auch der Urologe/die Urologin des Vertrauens oder lokale Beratungsstellen – sofern vorhanden – gefragt werden.


6.2. Medikamentöse Therapie

⇒ Antimuskarinika (AM)/Sympathomimetikum können zur Behandlung einer überaktiven Blase und Dranginkontinenz eingesetzt werden
Medikamente wie Duloxetin zur Behandlung der Belastungsinkontinenz sollten nur durch den Spezialisten verschrieben werden.

Blasenentspannende Medikamente (Antimuskarinika und Sympathomimetikum)

Alpha-Blocker

  • Je nach Anamnese und möglicher Problematik (Prostataobstruktionssyndrom?) kann ein Versuch mit einem Alpha-Blocker wie Tamsulosin oder Silodisin unternommen werden. Bei grosser Prostata > 40 ml in Kombination mit einem 5-α-Reduktase-Inhibitor.

Antimuskarinika und Sympathomimetikum (13, 14, 22)

  • Zusätzliche medikamentöse Therapieoption bei unzureichender konservativer Therapie bei Erwachsenen mit Urininkontinenz (s. a. Tabelle 2)
  • Bei Patienten, die besonders gut auf antimuskarinische Medikation ansprechen, kann ev. bei Dranginkontinenz auch eine Therapie on demand (z. B. vor Kinobesuch) versucht werden.

Welches Präparat für wen?

Es gibt keine Belege, dass ein Antimuskarinikum in der Wirksamkeit einem anderen überlegen ist. Hinsichtlich der Nebenwirkungen haben alle Antimuskarinika ein ähnliches Profil. Am meisten Nebenwirkungen verursacht das per orale Oxybutynin. Manchmal ist es erforderlich, verschiedene Medikamente auszuprobieren, bis man eine gute Verträglichkeit und Wirksamkeit gefunden hat
⇒ Verlaufskontrolle und die Kontraindikationen beachten!
Für jedes Medikament ist eine Interaktionsanalyse mit der bestehenden Medikation unverzichtbar!

  • Bei älteren Patienten > 65 J.
    Wegen des Risikos einer zerebralen bzw. kognitiven Beeinträchtigung und bei einer hoher antimuskarinergen Last bei Polypharmazie empfiehlt sich Mirabegron (Betmiga®) als First-line-Medikament. Bei ungenügender Wirkung oder bei Unverträglichkeit kann ein Antimuskarinikum eingenommen werden – in erster Linie Trospium (Spasmo Urgenin Neo®). Nachteil: Es müssen 2 Tabletten/Tag eingenommen werden. Alternativ kommen grundsätzlich die meisten Antimuskarinika (Toviaz®, Detrusitol®, Emselex®, Vesicare®) in Frage. Diese überwinden auch aufgrund ihrer Molekülgrösse oder der geringen Lipophilität in geringerem Masse die Blut-Hirn-Schranke. Oxybutynin sollte vermieden werden!
  • Relative Kontraindikationen für AM sind neben unbehandeltem Engwinkelglaukom und Blasenentleerungsstörungen, auch Erkrankungen mit verminderter gastrointestinaler Mobilität (z. B. Hiatushernie, Reflux). Vor und während der Therapie sollten immer Kontrollen (Restharn, Innenaugendruck) erfolgen –> ev. Überweisung zum Spezialisten
  • Bei Neigung zur Obstipation sollte auf eine mögliche Verschlechterung hingewiesen werden
  • Beim Sympathomimetikum Mirabegron (Betmiga®) gelten dieselben Regeln zur Vorsicht. Es kann zu kardiovaskulären Nebenwirkungen (Hypertonie, erhöhte Herzfrequenz) kommen und zu Mundtrockenheit
  • Als pflanzliches Präparat kann z. B. bei zunehmend abgeschwächtem Harnstrahl oder erschwerter Miktion am Morgen Sägepalmextrakt oder Bryophyllum versucht werden, sofern der Patient ein Phytotherapeutikum wünscht. Die zu erwartende Wirkung ist allerdings, wenn überhaupt vorhanden, deutlich geringer ausgeprägt als bei den Standardmedikamenten.

Hinweis: Ein Zusammenhang zwischen Antimuskarinika-Therapie und Demenzentwicklung scheint unwahrscheinlich.Studienergebnisse, die einen entsprechenden Verdacht nahelegen könnten, wurden auf der Basis eines unzureichenden Studiendesigns erzielt, und es bestehen relevante Interaktionen zwischen der Diagnose Demenz und Inkontinenz (15). 

Vorgehen bei Nebenwirkungen/Therapieversagen

  • Von einem Therapieversagen auf Antimuskarinikum spricht man, wenn mindestens 2 der o. g. Medikamente und/oder eine Kombination mit einem Sympathomimetikum versucht wurde. Die Therapiedauer sollte dabei mindestens 6–8 Monate betragen. Bis zur maximalen Wirkung dauert es mindestens 3 Monate (16)
  • Bei Nebenwirkungen sollte das Medikament frühzeitig gestoppt und ein Präparatewechsel vorgenommen werden
  • Häufig wird das Medikament wegen ungenügender Wirkung oder Nebenwirkungen von den Patienten selbstständig nach 3–5 Monaten abgesetzt (17).

Tabelle 2: Blasenentspannende Medikamente (Sympathomimethikum/SM) und Antimuskarinika/AM)

 

 

6.3. Operative Behandlungsoptionen (–> b. Spezialisten)

Eine operative Therapie der Belastungsinkontinenz kommt nach Ausschöpfen der konservativen Therapie in Betracht.

Operationsverfahren

Künstlicher Sphinkter („Goldstandard“)

1. Harnröhren-„Schlinge“ (ATOMS-Prothese)
Es wird ein Kissen unter die Harnröhre gelegt und wie eine Schaukel am Becken befestigt. Über einen Port kann das Kissen aufgefüllt, die Urethra komprimiert und so die Urininkontinenz reguliert werden. Das Wasserlösen erfolgt gegen einen Widerstand – so, wie wenn Mann mit einer obstruktiven Prostata Wasser löst.
Vorteil: Gute Kontinenzrate, adjustierbar, benötigt keine speziellen Massnahmen zum Wasserlösen, kann eher nach Radiotherapie diskutiert werden.
Nachteil: Katheterlegen und Zystoskopien sind möglich, sollten aber von erfahrenen Urologen vorgenommen werden.

2. Harnröhrenmanschetten (verschiedene Anbieter)
Eine Manschette wird um die Harnröhre gelegt und eine Pumpe ins Skrotalfach. Wenn man die Pumpe betätigt, dann öffnet sich die Manschette während 2 Minuten und man kann die Blase entleeren.
Vorteil: Gute Kontinenzrate, adjustierbar, natürlicheres Wasserlassen
Nachteil: Kann bei einsetzender Demenz Probleme beim Betätigen bereiten, Fremdkörper, Katheterlegen und Zystoskopien sind möglich, sollten aber von erfahrenen Urologen vorgenommen werden.

Nach einer Prostataoperation können alle Prothesenformen empfohlen werden. Im Durchschnitt hält eine Prothese ca. 10 Jahre. Hauptkomplikationen: Infekt, Durchbrechen der Prothese
Nach einer Bestrahlung oder nach Prostataoperation muss die Einlage diskutiert werden, da das Risiko für Komplikationen steigt. Je nach Leidensdruck kann eine Implantation geplant werden.

(Sehr) selten eingesetzte Verfahren

  • Bulking agents
    Hier erfolgt die Unterspritzung des Urothels im Bereich des M. sphincter urethrae externus. Ein kurzer Eingriff mit mässigem Erfolg. Oft hält die Kontinenz für wenige Monate. Durch das Wiederholen der Injektionen kann es zu Fibrosierung kommen

  • Perineale Schlinge
    Ähnlich wie bei Frauen wird eine Schlinge um die Urethra gelegt. Durch den zusätzlichen Zug/Druck kommt es zum Verschluss der Harnröhre und zur Kontinenz. Die Komplikationsrate (Perforation durch das Netz) ist jedoch hoch. Nur wenige Urologen haben in der Schweiz noch Erfahrung mit dieser Technik.

 

7. Literatur

  1. Abrams P, et al.: The standardisation of terminology of lower urinary tract function. The International Continence Society Committee on Standardisation of Terminology. Scand J Urol Nephrol Suppl, 1988. 114: p. 5-19.
  2. Shamliyan, TA., et al.: Male urinary incontinence: prevalence, risk factors, and preventive interventions. Rev Urol, 2009. 11(3): p. 145-65).
  3. Herzog, AR, et al.: Epidemiology of urinary incontinence: prevalence, incidence and correlates in community populations. The Journal of Urology  Supplement, 1990. 36.
  4. Clemens JQ: urinary incontinence in men. UpToDate, aufgerufen 09/2023.
  5. Mebust, WK, et al. Transurethral prostatectomy: immediate and postoperative complications. A cooperative study of 13 participating institutions evaluating 3,885 patients. J Urol, 1989. 141(2): p. 243-7.)
  6. Abrams, P, et al.: The standardisation of terminology in lower urinary tract function: report from the standardisation sub-committee of the International Continence Society. Urology, 2003. 61(1): p. 37-49.)
  7. S2e-Leitlinie Harninkontinenz bei geriatrischen Patienten, Diagnostik und Therapie AWMF-Registernummer 084-001 Kurzfassung (update 2019) Stand 2. 1. 2019.
  8. Kolman et al.: Distribution of post-void residual urine volume in randomly selected men. J Urol, 1999.
  9. Chia SJ, et al.: Correlation of intravesical prostatic protrusion with bladder outlet obstruction.; B JU Int 2003.
  10. Rule AD, et al.: Longitudinal changes in post-void residual and voided volume among community dwelling men; J Urol 2005.
  11. Asimakopoulos AD, et al.: Measurement of post-void residual urine. Neurourol Urodyn. 2016 Jan;35(1):55-7. doi: 10.1002/nau.22671. Epub 2014 Sep 22. PMID: 25251215.
  12. Rubilotta E, et al.: A Post-void residual urine ratio: A novel clinical approach to the post-void residual urine in the assessment of males with lower urinary tract symptoms. Investig Clin Urol. 2021 Jul;62(4):470-476. doi: 10.4111/icu.20200560. Epub 2021 May 24. PMID: 34085789; PMCID: PMC8246021.
  13. Chapple, CR, et al.: The effects of antimuscarinic treatments in overactive bladder: an update of a systematic review and meta-analysis. Eur Urol, 2008. 54(3): p. 543-62.
  14. Kessler, TM, et al., Adverse event assessment of antimuscarinics for treating overactive bladder: a network meta-analytic approach. PLoS One, 2011. 6(2): p. e16718.
  15. Welk B, Richardson K, Panicker JN: The cognitive effect of anticholinergics for patients with overactive bladder. Nat Rev Urol. 2021 Nov;18(11):686-700. doi: 10.1038/s41585-021-00504-x. Epub 2021 Aug 24. PMID: 34429535.
  16. Gormley, EA, et al.: Diagnosis and treatment of overactive bladder (non-neurogenic) in adults: AUA/SUFU guideline amendment. J Urol, 2015. 193(5): p. 1572-80.
  17. Wagg A, et al.: Persistence with prescribed antimuscarinic therapy for overactive bladder: a UK experience. BJU Int, 2012. 110(11): p. 1767-74.
  18. Sciarra A, et al. A biofeedback-guided programme or pelvic floor muscle electric stimulation can improve early recovery of urinary continence after radical prostatectomy: A meta-analysis and systematic review. Int J Clin Pract. 2021
  19. Sun B et al. Electroacupuncture for stress-related urinary incontinence in elderly women: data analysis from two randomised controlled studies. BMJ Support Palliat Care. 2022.
  20. Schweizerische Gesundheitsbefragung (SGB) 2012; in: Bundesamt für Statistik BFS, 2014.
  21. Kirshblum S, Eren F: Anal reflex versus bulbocavernosus reflex in evaluation of patients with spinal cord injury. Spinal Cord Ser Cases. 2020 Jan 7;6:2. Doi: 10.1038/s41394-019-0251-3. PMID: 31934354; PMCID: PMC6946655.
  22. Welk B, Richardson K, Panicker JN.:The cognitive effect of anticholinergics for patients with overactive bladder. Nat Rev Urol. 2021 Nov;18(11):686-700. doi: 10.1038/s41585-021-00504-x. Epub 2021 Aug 24. PMID: 34429535.

 

8. Anhang

Tabelle A1: Medikamente mit anticholinergen Nebenwirkungen (Harnverhalt/Miktionsschwierigkeiten, etc.).  Anticholinerge Aktivität ist ausgewiesen als hoch (H), mittel (M) und niedrig (N)

 



9. Impressum

Diese Guideline wurde im Oktober 2023 erstellt.
© Verein mediX schweiz

Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Uwe Beise 
Dr. med. Maria Huber

Autor
Dr. med. Marko Kozomara-Hocke

Diese Guideline wurde ohne externe Einflussnahme unter Mitarbeit aller regionalen mediX Ärztenetze und assozierter Ärztenetze in der Schweiz erstellt. Es bestehen keine finanziellen oder inhaltlichen Abhängigkeiten gegenüber der Industrie oder anderen Einrichtungen oder Interessengruppen. Sofern nicht anders ausgewiesen gilt dies ausdrücklich auch für die Autor*innen.

mediX Guidelines enthalten therapeutische Handlungsempfehlungen für bestimmte Beschwerdebilder oder Behandlungssituationen. Jeder Patient muss jedoch nach seinen individuellen Gegebenheiten behandelt werden.

mediX Guidelines werden mit grosser Sorgfalt entwickelt und geprüft, dennoch kann der Verein mediX schweiz für die Richtigkeit – insbesondere von Dosierungsangaben – keine Gewähr übernehmen.  

Alle mediX Guidelines im Internet unter www.medix.ch

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