Factsheet

Erwachsenenschutzrecht

Erstellt von: Irene Bopp-Kistler, Corinne Chmiel Zuletzt revidiert: 03/2023 Letzte Änderung: 03/2023

Patienten haben Rechte

Für PatientInnen

Mehr zu diesem Thema erfahren Sie in unseren Gesundheitsdossiers.

1. Förderung Selbstbestimmungsrecht

Patientenverfügung (PV)

  • Hinterlegung sinnvoll beim Hausarzt, vertretende Personen, gut sichtbar auch zu Hause! Hinterlegung auch bei Exit möglich
  • Gültigkeit nur mit eigenhändiger Unterschrift und Datum
  • Wichtig: Inhalt mit Vertrauensperson und Hausarzt besprechen
  • Patientenverfügung soll proaktiv mit den PatientInnen besprochen werden, insbesondere auch die Frage der Vertretungsperson (–> s. Kap. 2 Urteilsfähigkeit).
    ⇒ mediX Patientenverfügung (bevorzugt in palliativer Situation), FMH Patientenverfügung.

Vertretungsrecht 

  • Bei fehlender PV sind die Vertreter gesetzlich geregelt: Ehegatten und eingetragener Partner, Personen im gemeinsamen Haushalt, Nachkommen, Eltern oder Geschwister
  • Bei fehlenden Vertretern, legt die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) auf Antrag des Arztes einen Beistand fest
    • KESB: Bisherige Miliz- und Laienbehörden wurden durch professionelle, interdisziplinär zusammengesetzte Fachbehörde abgelöst. Entscheide der KESB sind direkt bei Gericht anfechtbar.

Vorsorgeauftrag/Vollmacht

  • Vorsorgeauftrag: Natürliche oder juristische Personen beauftragen, um die persönlichen Angelegenheiten, Einkommens-/Vermögensverwaltung, Vertretung in rechtsgeschäftlichen Angelegenheiten und Vertretung bei medizinischen Massnahmen (integrierte PV) zu regeln. Handschriftlich erstellen oder notariell bestätigen. Hinterlegung frei wählbar.
    –> Validierung (Inkrafttretung) durch KESB notwendig. Voraussetzung ist ein ärztliches Zeugnis zur Bestätigung der  Urteilsunfähigkeit. Danach ist KESB nicht mehr involviert
  • Vollmacht: Tritt sofort in Kraft bei Urteilsfähigkeit. Handschriftlich oder digital mit Unterschrift. Erlischt mit dem Eintreten der Urteilsunfähigkeit, ausser wenn ausdrücklich formuliert (wird aber oft von Banken nicht anerkannt).
    –> Wichtig: Bei Erstellung muss Urteilsfähigkeit vorhanden sein (gilt für Vollmacht und Vorsorgeauftrag!).
    Vorsorgeauftrag und Vollmacht erlöschen nach dem Tod, ausser wenn es ausdrücklich formuliert wird (über den Tod hinaus).

Testament/Ehevertrag/Erbvertrag

Testament

  • Tritt im Gegensatz zum Vorsorgeauftrag erst nach dem Tod in Kraft (wird oft verwechselt!). Kann handschriftlich geschrieben werden oder digital (notarielle Bestätigung notwendig). Zum Zeitpunkt des Erstellens ist Urteilsfähigkeit Voraussetzung. Wird einseitig vom Erblasser erstellt. Kann jederzeit abgeändert werden.

Ehevertrag                                      

  • Das Ehepaar kann im Ehevertrag vereinbaren, dass der überlebende Partner das gesamte Errungenschaftsvermögen erhält. Dadurch beschränkt sich der Anspruch der anderen Erben, meist sind das die Kinder, auf die Hälfte des Eigenguts der verstorbenen Ehefrau oder des verstorbenen Ehemannes.

Erbvertrag                                       

  • Vertrag zwischen dem Erblasser und mindestens einer weiteren Vertragspartei (z. B. Partner, Kinder u. a). Bindungswirkung hoch, kann nicht einseitig geändert werden. Kann mit Ehevertrag kombiniert werden. Notarielle Bestätigung (mit Zeugen) notwendig. Tritt nach dem Tod in Kraft.

Vertretungsrecht

  • Bei fehlendem Vorsorgeauftrag haben Ehepartner oder eingetragene Partner ein Vertretungsrecht für die meisten Rechtshandlungen (Deckung des Unterhalts, ordentliche Verwaltung des Einkommens/Vermögens, Erledigen der Post u. a.)
  • Für Rechtshandlungen der ausserordentlichen Vermögensverwaltung (z. B. Liegenschaftsverkauf) hat die KESB die Zustimmung zu erteilen
  • Ist die Partnerschaft nicht eingetragen, besteht kein gesetzliches Vertretungsrecht. Dasselbe gilt für Kinder von alleinstehenden Menschen: Errichtung einer Beistandschaft notwendig (entweder familienintern oder extern).

Schutz von Bewohnenden von Wohn- und Pflegeeinrichtungen

  • Schriftlicher Betreuungsvertrag (Leistungen, Entgelt)
  • Information an Bewohnende und Vertretungsperson, sowie Protokoll einer nötigen Bewegungseinschränkung (Anbringen von Bettgittern, Abschliessen der Türe, Fixationsmassnahmen, Isolierung)
  • Festlegen von medizinischen Massnahmen im Notfall.

Behördliche Massnahmen nach Mass

  • Gefährdungsmeldung an die KESB durch Ärztinnen und Ärzte (Errichten einer Beistandschaft): Zuvor Entbindung vom Berufsgeheimnis notwendig, ausser wenn Betroffene damit einverstanden sind (unbedingt Dokumentation in der KG)
  • In akuten Notsituationen (akute Fremd- oder Eigengefährdung) ist eine Meldung ohne Entbindung vom Berufsgeheimnis möglich
  • An individuelle Bedürfnisse der betreffenden Person anzupassen, massgeschneiderte Massnahmen.

Hinweise zur Gefährdungsmeldung KESB

Voraussetzung

  • Die Grundversorgenden haben einen wichtigen Stellenwert bezüglich Schutz ihrer PatientInnen. Immer mehr Menschen sind alleinstehend und haben kaum ein soziales Umfeld, das für sie verantwortlich ist. Bei alleinlebenden Menschen sollte primär das familiäre Umfeld einbezogen werden
  • Kommt eine Ärztin/Arzt zum Schluss, dass ein Patient/eine Patientin aufgrund ihres Schwächezustandes oder Schutzbedürftigkeit auf Hilfe von aussen angewiesen ist, kann sie eine Meldung bei der KESB machen.
    ⇒ Meldeformulare sind unter z.B. kesb-zh.ch sowie auf den Websites verschiedener KESB abrufbar. Die KESB trifft die nötigen Abklärungen und lädt darauf die betroffene Person zu einem Gespräch ein
    ⇒ Eine Meldung ist nie anonym, das heisst der Patient/die Patientin erfährt früher oder später immer, wer die Meldung bei der KESB getätigt hat.

Was heisst Schwächezustand?

  • Ein Schwächezustand beinhaltet insbesondere eine geistige Behinderung, eine psychische Erkrankung, inklusive dementielle Entwicklungen oder Suchterkrankungen sowie ähnliche in der Person liegende Zustände, die dazu führen, dass wichtige eigene Angelegenheiten nicht mehr erledigt werden.

Was heisst Schutzbedürftigkeit?

  • Ein Schutzbedarf besteht dann, wenn die betroffene Person im Hinblick auf zu erledigende finanzielle, gesundheitliche, rechtliche oder andere persönliche Angelegenheiten längerfristig nicht in der Lage ist, die dafür notwendige Unterstützung einzuholen bzw. jemanden damit zu beauftragen. Die Belastung des Umfelds ist zu beachten.
    Beispiele: Dauerhafte Verwahrlosungssituation, Post wird nicht geöffnet, drohende Vermögensverluste, notwendige Spitexbetreuung wird abgelehnt.

Praktische Durchführung

  • Jede Person kann sich an die KESB wenden, wenn ihres Erachtens Personen gefährdet sind und möglicherweise behördliche Hilfe brauchen. Zum Schutz der Beziehung ist es aber oft besser, wenn die Meldung durch Professionelle erfolgt.
    Personen, die dem Berufsgeheimnis unterstehen (z. B. ÄrztInnen, PsychologInnen, Rechtsanwälte, Geistliche, Mitarbeitende Opferhilfe) sind nur dann zur Mitwirkung verpflichtet, wenn die geheimnisberechtigte Person sie dazu ermächtigt hat oder die vorgesetzte Behörde oder die Aufsichtsbehörde sie auf eigenes Gesuch oder auf Gesuch der Erwachsenenschutzbehörde vom Berufsgeheimnis entbunden hat: (–> Berufsgeheimnis)
  • Dem Gesuchsschreiben zur Entbindung vom Berufsgeheimnis kann bereits die Gefährdungsmeldung beigelegt werden (bevor sie verschickt wird). –> erleichtert das Verfahren zur Entbindung vom Berufsgeheimnis.

Ausnahmen zur Entbindung des Berufsgeheimnisses

  • Keine Entbindung von der Schweigepflicht ist nötig, wenn eine Ärztin davon Kenntnis erhält, dass eine ernste Gefahr einer schweren Schädigung der betroffenen Person oder Dritter besteht (Art. 453 Abs. 1 ZGB). In diesen Fällen kann über die KESB zudem ein Informationsaustausch zwischen den involvierten Stellen (Polizei, Opferhilfe, Gerichte etc.) installiert werden.

Was bedeutet ernsthafte Gefahr?

  • Die ernsthafte Gefahr einer schweren Schädigung bezieht sich sowohl auf körperliche, seelische, wie auch materielle Aspekte. Beispiele: Eine Person gefährdet sich oder andere infolge Suizidalität, schwerer Selbstverletzungen oder massiver Verwahrlosung; eine geistig behinderte Person ist von ihrem Umfeld wahrscheinlich schwerer Gewalt oder einem Missbrauch ausgesetzt.

Was wird im Bericht gefordert?

  • Neben dem Schwächezustand soll der Arztbericht aus medizinischer Sicht Auskunft über den Schutzbedarf und die Urteilsfähigkeit der betroffenen Person geben, insbesondere ob sie in der Lage ist, eine Drittperson mit der Erledigung ihrer Angelegenheit zu beauftragen und zu kontrollieren. Je nach Situation der betroffenen Person benötigt die KESB von der Ärztin zudem Auskünfte, ob ein dauernder stationärer Pflegebedarf besteht oder ob ambulante Massnahmen wie Spitex genügen
  • Zudem wird nach der Urteilsfähigkeit gefragt (–> s. Kap.2).

Abrechnungsmöglichkeit

  • Die Zeugnisse können abgerechnet werden und die Rechnung geht primär an die KESB
  • Arzt/Ärztin können der KESB den Aufwand für den Kurzbericht in Anlehnung an die Honorarempfehlung der FMH für ärztliche Zeugnisse im privaten Versicherungsbereich in Rechnung stellen. Tarif: Kurzer standardisierten Bericht (bis 15 Minuten) CHF 60.–, Bericht mit mehr Angaben (bis 25 Minuten) CHF 80.–, zeitraubender Bericht (bis 40 Minuten) CHF 140.–. Weiterer, begründeter zeitlicher Mehraufwand kann pro 5 Minuten mit CHF 20.– verrechnet werden. Die KESB kann die Kosten des Arztberichts der betroffenen Person weiterverrechnen.

Weiterführende Informationen für ÄrztInnen

  1. Leitfaden zum Erwachsenenschutzrecht in Pflegeheimen
  2. Empfehlungen zum Erwachsenenschutz für Ärztinnen und Ärzte

Informationen für PatientInnen

  1. Vorsorgeauftrag-Vorlage
  2. Prosenectute Finanzen-Vorsorge
  3. Kescha: Kinder- und Erwachsenenschutz-Anlaufstelle
  4. Informationen zum Kindes- und Erwachsenenschutz (auch in leichter Sprache)

 

2. Urteilsfähigkeit

  • Urteilsfähigkeit bezieht sich immer auf eine gewisse Handlung. Man kann nie von einer generellen Urteilsfähigkeit oder Urteilsunfähigkeit ausgehen
  • Urteilsfähigkeit ist nicht gleichzusetzen mit Zurechnungsfähigkeit oder Schuldfähigkeit
  • In vielen Fällen sind die HausärztInnen in der Lage, die Urteilsfähigkeit im Hinblick auf einen anstehenden Entscheid zu beurteilen
  • Bei Demenzerkrankten ohne Urteilsfähigkeit komplexer Therapieoptionen –> Vertretungsperson der Patientenverfügung beiziehen
  • Bei Urteilsunfähigkeit und fehlender Patientenverfügung sind die Vertreter gesetzlich geregelt (EhepartnerInnen, gesetzlich eingetragene PartnerInnen, Personen im gleichen Haushalt lebend*, Nachkommen, Eltern und Geschwister).
    * Beachte: PartnerInnen, die mind. 3 Monate im gleichen Haushalt leben, können über die PatientInnen bestimmen. Die eigenen Kinder oder auch Eltern werden dann nicht als Vertretungsperson akzeptiert
  • Bei fehlender Vertretungsperson muss eine Meldung an die KESB erfolgen, welche eine Beistandschaft festlegt. In Notsituationen entscheidet aber der Arzt/die Ärztin, wenn die Patientenverfügung nicht vorliegend ist oder bis eine Beistandschaft erstellt wurde.

Kriterien zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit

  • Urteilsfähigkeit = ist ein Schlüsselelement des verfassungsmässig garantierten Rechts auf Selbstbestimmung (Art. 10, Abs. 2 Schweiz. Bundesverfassung). Die ärztliche Beurteilung der Urteilsfähigkeit ist entscheidend für die gleichzeitige Gewichtung zweier ethischer Prinzipien: Des Respektes vor der Selbstbestimmung derjenigen, die fähig sind, für sich selbst zu entscheiden, und der Gewährleistung von Schutz für diejenigen, deren Fähigkeit für selbstbestimmtes Entscheiden eingeschränkt ist.

Folgende 4 Komponenten sind zur Ermittlung der Urteilsfähigkeit zu beurteilen

1. Erkenntnisfähigkeit: Fähigkeit, die für die Entscheidung relevanten Informationen zumindest in den Grundzügen zu erfassen

2. Wertungsfähigkeit: Fähigkeit, der Entscheidungssituation vor dem Hintergrund der verschiedenen Handlungsoptionen eine persönliche Bedeutung beizumessen

3. Willensbildungsfähigkeit: Fähigkeit, aufgrund der verfügbaren Informationen und eigener Erfahrungen, Motive und Wertvorstellungen einen Entscheid zu treffen

4. Willensumsetzungsfähigkeit: Fähigkeit, diesen Entscheid zu kommunizieren und zu vertreten.

⇒ Urteilsunfähigkeit: Feststellung nur im Hinblick auf eine spezifische Entscheidung und zu einem definierten Zeitpunkt. Bei Fluktuation des Zustandsbildes immer bestmöglichen Zeitpunkt zur Evaluation wählen

⇒ Im Zweifelsfall und bei Entscheidungen mit grosser Tragweite –> ev. interdisziplinäre, interprofessionelle Evaluation der Urteilsfähigkeit

⇒ Verzicht auf Evaluation der Urteilsfähigkeit: Wenn die bestehende Hausarzt-Patient-Beziehung, ein patientenorientierter Ansatz und das gegenseitige Vertrauen eine gemeinsame konsensuelle Entscheidungsfindung ermöglichen

  • Orientierende Abklärung: Weitgehend formloser Prozess; Ergebnis wird häufig nicht (ausführlich) dokumentiert und
    i. d. R. auch nicht mit dem Patienten besprochen
    • Kommt Arzt/Ärztin nach orientierender Abklärung zum Schluss, dass eine vertiefte Evaluation der Urteilsfähigkeit erforderlich ist, muss sie den Patienten darüber informieren
    • Lehnt der Patient/die Patientin die Evaluation ab und/oder verweigert sie die Mitwirkung –> Klinische Einschätzung der Urteilsfähigkeit als Grundlage für weiteres Vorgehen (z. B. Einbezug des gesetzlichen Vertreters oder bei dessen Fehlen Einbezug der KESB).

Urteilsfähigkeit bei Menschen mit Demenz

  • Die Evaluation der Urteilsfähigkeit kann bei Patientinnen mit Hirnleistungsstörungen erschwert sein
  • Evaluationsbedingungen optimieren
    • Einfache und kurze Sätze, Vermindern von ablenkenden Umgebungsfaktoren etc.
    • Kritische Fragen mehrmals auf verschiedene Weise wiederholen (zur Beurteilung der Konsistenz der Antworten bzgl. Erkenntnisfähigkeit, Willensbildungs- und Umsetzungsfähigkeit)
    • Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten unterstützen (z. B. Hörgerät, Brille)

⇒ Demenzerkrankte im Delir –> Zunächst das für die kognitiven Fluktuationen verantwortliche medizinische Grundproblem behandeln, bevor die Urteilsfähigkeit evaluiert wird (SAMW). Bei deliranten, nicht urteilsfähigen Patienten in Notfallsituationen gilt die Patientenverfügung.

Wunsch nach assistiertem Suizid

  • Assistierter Suizid in Alters- und Pflegeinstitutionen setzt eine spezialärztliche Beurteilung der Urteilsfähigkeit des Sterbewilligen voraus
  • Fragebogen von Exit bezüglich Urteilsfähigkeit
  • Arzt/Ärztin entscheidet in eigener Verantwortung, ob die Übernahme dieser Aufgabe mit dem berufsethischen Selbstverständnis und den persönlichen Werten vereinbar ist
  • Wichtige Fragen
    • Einschränkung der mentalen Fähigkeiten (Demenz) oder psychiatrische Erkrankung vorhanden?
    • Besteht eine realistische Einschätzung der Erfolgschancen einer Therapieoption?
  • Eine Demenz allein schliesst nicht per se die Urteilsfähigkeit bezüglich Wunsch nach assistiertem Suizid aus. Wichtig: Die Urteilsfähigkeit muss regelmässig neu beurteilt werden. Patienten dürfen nicht von Angehörigen zur Durchführung gedrängt werden

Instrumente zur Beurteilung der Urteilsfähigkeit

Die Frage, wie Urteilsfähigkeit am besten evaluiert werden soll, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen.

  • Urteilsfähigkeit ist kein objektiv feststellbarer Befund. Sie wird definiert als ein reflektiertes Werturteil der Evaluierenden gestützt auf empirische Fakten zum Denken und Fühlen des Patienten
  • Technische Untersuchungsbefunde, neuropsychologische bzw. psychometrische Testresultate spielen allenfalls eine ergänzende Rolle, Screeninginstrumente wie MMS und Uhrentest sind nicht geeignet zur alleinigen Beurteilung der Urteilsfähigkeit
  • Das Formular U-Doc kann flexibel eingesetzt werden – als Gedankenstütze, als Entscheidungshilfe, als Diskussions- und/oder Dokumentationsvorlage. Der Anlass für die Evaluation und deren Ergebnis sind festzuhalten.

 

3. Fürsorgerische Unterbringung (FU)

Voraussetzungen

  1. Eine Person, die an einer psychischen Störung oder an geistiger Behinderung leidet oder schwer verwahrlost ist, darf in ei­ner geeigneten Einrichtung untergebracht werden, wenn die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann
  2. Die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten sind zu berücksichtigen
  3. Die betroffene Person wird entlassen, sobald die Voraussetzungen für die Unterbringung nicht mehr erfüllt sind
  4. Die betroffene oder eine ihr nahestehende Person kann jederzeit um Entlassung ersuchen. Über dieses Gesuch ist ohne Verzug zu entscheiden (ZGB 426).

Fürsorgerische Unterbringung: Voraussetzungen und Hinweise zum Verfahren (Gesundheitsdepartement Kanton St. Gallen).

Anordner

  • KESB
  • Auf kantonaler Ebene kann Kompetenz zur Verordnung einer FU an beliebigen Arzt abgegeben werden (z. B. Kanton Zürich –> Formular).

Einrichtungen/Betreuung

  • Offene oder geschlossene Abteilung der Psychiatrie, Alters-/Pflegeheim, Spitäler. Alterswohnungen, Wohngruppen.

Zeitlicher Rahmen der Betreuung

  • Maximal 6 Wochen. Dann muss KESB Unterbringungsentscheid vorlegen, ansonsten erlischt die FU. Eine erneute FU ärztlicherseits ohne Entscheid KESB ist unzulässig
  • Freiwillig eintretende Person mit einer psychischen Störung kann die ärztliche Leitung der Institution 3 Tage zurückbehalten. Dagegen kann Beschwerde eingelegt werden. Nach Ablauf der Frist darf die Person die Einrichtung verlassen, ausser es liegt ein Unterbringungsentscheid der KESB oder eines Arztes vor
  • Entlassungsvoraussetzungen sind gesetzlich geregelt (–> siehe KESCHA)
  • Phasenmodell (nach Dubno/Reichlin, präsentiert auf Fachtagung KOKES, 2022).

Behandlung

Behandlung einer psychischen Störung unter FU (gilt für psychiatrische Kliniken)

  • Voraussetzungen: Urteilsunfähigkeit bzgl. Behandlungsbedürftigkeit, Gefahrensituation vorhanden, Verhältnismässigkeit der Anordnung
  • Behandlungsplan
  • Patientenverfügung muss berücksichtigt (nicht entsprochen) werden
  • Verlegung in eine andere Institution ohne erneuten Einweisungsentscheid möglich
  • Nachbetreuung kantonal.

Vertrauensperson

  • Informationen über Rechte und Pflichten, Hilfestellung bei administrativen Fragen, Begleitung bei Verfahren usw.

Informationen für Angehörige

  1. VASK (Vereinigung der Angehörigen von psychisch Kranken (VASK): Klinikeinweisung: Informationen für Angehörige.

Wichtigste Literatur

  1. Beurteilung der Urteilsfähigkeit in der Praxis: Richtlinien der Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften 2019.
  2. Urteilsfähigkeit und selbstbestimmte Entscheidungen: M.Trachsel, D. Hürlimann in demenz.Fakten Geschichten Perspektiven (I.Bopp, rueffer&rub, 3. Auflage 2022).
  3. Trachsel M, Biller-Andorno N: Das kleine Einmaleins der Urteilsfähigkeit. Praxis 2022; 111 (3): 149-156.
  4. Pally Hofmann U: Ist mein Patient urteilsfähig. Schweiz Ärzteztg. 2019;100(34):1102-1103.
  5. Beck S, et al.: Hausärztliche Abklärung der Testierfähigkeit bei Menschen mit kognitiven Einschränkungen: der informierte Arzt 02_22.
  6. Meldungen an die KESB.
  7. SAMW: Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz.



Autorinnen

Dr. med. Irene Bopp-Kistler

Prof. Dr. med. Corinne Chmiel                                                                                                                   Aktualisiert: 03/2023

Guideline Kurzversion