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Depression

Erstellt von: Arno Bindl, Andres Howald, Uwe Beise Zuletzt revidiert: 09/2023 Letzte Änderung: 09/2023

Depressionen

Für PatientInnen

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Aktualisierung 09/2023

  • Die Guideline wurde vollständig durchgesehen und die Literatur aktualisiert
  • Neu: Einbezug der depressiven Episode im Rahmen der bipolaren affektiven Störung (–> Kap.3.2)
  • Neu: Empfehlungen zu Labor- und EKG-Kontrollen (–> Kap. 3.3)
  • Neu: Hinweise zu Sexualstörungen unter Antidepressiva
  • Neu: Berücksichtigung der Besonderheiten in der Pharmakotherapie von älteren Patienten.

 

1. Epidemiologie und Bedeutung

  • Das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, beträgt
    16–20 % (1, 2). Die Depression kann monophasisch, rezidivierend oder im Rahmen einer bipolaren Störung auftreten. Diagnostisch liegt dann eine bipolare affektive Störung vor, wenn im Krankheitsverlauf eine oder mehrere hypomanische, manische oder gemischte Episoden aufgetreten sind (ca. 20 % aller depressiven Erkrankungen)
  • Suizid ist in der Schweiz bei den 15–44-jährigen Männern die häufigste Todesursache. Neun von zehn Menschen, die Suizid begehen, litten zuvor an einer depressiven Erkrankung oder an einer anderen psychischen Störung
  • Es gibt eine hohe Prävalenz depressiver Störungen bei Patienten mit somatischen Erkrankungen (z. B. Krebs, M. Parkinson, Herzinfarkt, Diabetes). Die Lebenszeitprävalenz einer depressiven Störung liegt bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen bei 42 % (3, 4). Ob die Behandlung der Depression auch die körperliche Prognose verbessert, ist noch nicht ganz sicher (5)
  • Natürlicher Verlauf: Episoden einer unipolaren Depression klingen häufig auch ohne spezifische therapeutische Massnahmen ab(6), die Krankheitsphasen dauern dann meist etwa 6–9 Monate
  • Krankheitsverlauf unter Therapie: Die mittlere Episodendauer einer behandelten unipolaren depressiven Störung wird auf 16 Wochen geschätzt (7). Die Verläufe depressiver Störungen weisen eine grosse interindividuelle Variabilität auf (Tabelle 1). Hält eine depressive Episode länger als zwei Jahre ohne Besserung an, spricht man von einer chronischen Depression (ca. 15–20 % d. F.) (8–10).

Tabelle 1: Begriffe zur Beschreibung von Symptomveränderungen

GL Depression Tab 1

 

2. Diagnostik

Die Depression ist eine klinische Diagnose, die vom Hausarzt gestellt werden kann

⇒ Wichtig: Die Patienten klagen oft nicht direkt über Depressionen sondern geben andere Beschwerden an (11). Hierzu zählen

  • Abgeschlagenheit, Kraftlosigkeit
  • Konzentrationsmangel, Gedächtnisstörungen
  • Schlafstörungen
  • Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Obstipation, Diarrhö
  • Diffuser Kopfschmerz
  • Druckgefühl in Hals und Brust, Globusgefühl
  • Funktionelle Störungen Herz/Kreislauf (Tachykardie, Arrhythmie)
  • Schwindelgefühle, Sehstörungen
  • Muskelverspannungen, neuralgieforme Störungen
  • Libidoverlust
  • Ängstliche Grundstimmung ist in der Aktuphase häufig (–> zusätzliche Gabe von Benzodiazepinen erforderlich).

Besteht ein entsprechender Verdacht, sollte eine Depression aktiv exploriert werden.
Zur Diagnose einer Depression müssen mindestens 2 Hauptsymptome und 2 Zusatzsymptome über mindestens 2 Wochen vorhanden sein (11)

Diagnostik Depression



2.1. Screening

Ein Screening wird nur bei Risikopatienten empfohlen (11, 12).
Hierzu gehören Patienten mit folgender Anamnese

  • Frühere depressive Episoden
  • Depressionen, Suizid(versuche) in der Familie
  • Schwere somatische Erkrankungen
  • Substanzmissbrauch
  • Belastende Lebenssituation (life event).

Als hilfreich zur raschen Orientierung in der Praxis wird der 2 Fragen-Test empfohlen (11–13)

1. Fühlten Sie sich im letzten Monat häufig niedergeschlagen, traurig bedrückt oder hoffnungslos?

2. Hatten Sie im letzten Monat deutlich weniger Lust und Freude an Dingen, die Sie sonst gerne tun?

Werden beide Fragen bejaht, soll eine ausführliche Exploration erfolgen.

Zum Screening auf eine manische Episode siehe Fragebogen im Anhang 1.

2.2. Differentialdiagnose

⇒ Somatische Differentialdiagnosen: Bei depressiven Symptomen sollte das Vorliegen körperlicher Erkrankungen abgeklärt werden und eine Medikamentenanamnese erfolgen.

Mögliche Tests bei Diagnosestellung Depression (siehe auch mediX GL Müdigkeit)

  • Basis Labor Diagnostik: Hämatogramm, CRP, HbA1c, Elektrolyte, Kreatinin, GPT, TSH, Ferritin
  • Ergänzend je nach Anamnese: BSR, HIV/Hepatitis B/C-Screening (auch bei normaler GPT) und korrigiertes Kalzium
  • Bei Verdacht auf zerebrovaskuläres Geschehen (Mikro- oder klinisch okkulte Makroinfarkte) kann ein Schädel-MRI in Betracht gezogen werden, bei Befunden passend zu Mikroinfarkten in einem 2. Schritt Ursachensuche hierfür (Holter, Echo, Carotis Duplex, allenfalls exotisches [Gerinnungsabklärung]).

⇒ Psychiatrische Differentialdiagnosen

  • Abzugrenzen ist die depressive Anpassungsstörung z. B. als Trauerreaktion nach Verlust des Partners oder nach Diagnose einer körperlichen Erkrankung. Die Grenze zwischen unbewältigter Trauer und einer Depression ist nicht immer eindeutig.
    Grober Anhaltspunkt: Trauerreaktionen lassen zumeist innert 2 Monaten nach. Weitere Unterschiede sind: Bei Trauerreaktionen besteht meist eine Ansprechbarkeit für positive Ereignisse (sog. Schwingungsfähigkeit). Es gibt
    i. d. R. keine Anzeichen für andauernde, schwere Selbstzweifel oder ausgeprägte Schuldgefühle (11)
  • Depressive Symptome treten häufig auch bei anderen psychischen Störungen auf (11) –> s. Tabelle 2
  • Eine Angststörung (Panikstörung, generalisierte Angststörung, soziale Phobie) kann sich im Anfangsstadium zu einer zusätzlichen Depression ausweiten
    (–> Antidepressiva Erstmedikation für depressive Störungen und Angststörungen).

Tabelle 2:  Screeningfragen bei Verdacht auf alternative oder komorbide psychische Störung (bezogen auf den Zeitraum der vergangenen 4 Wochen)

GL Depression Tab 2



2.3. Erkennen von Suizidalität

60–70 % haben während einer depressiven Episode auch Suizidgedanken. Patienten sollen aktiv und empathisch bei der Erstdiagnose und im weiteren Verlauf nach Suizidgedanken befragt werden.

Siehe mediX Factsheet Suizid.

2.4. Überweisung an Spezialisten

  • Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen können oft ambulant vom Hausarzt behandelt werden (11)
  • Die Überweisung zum Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie (zur primären oder zur Mitbehandlung) wird empfohlen bei gleichzeitig bestehender psychischer Komorbidität sowie in folgenden Situationen
    • Unklare psychiatrische Differentialdiagnostik
    • Schwere Symptomatik
    • Therapieresistenz
    • Probleme bei der Pharmakotherapie und/oder in einer Psychotherapie
    • Interaktionsprobleme im Rahmen der Kombinationstherapie von Antidepressiva mit anderen Medikamenten
    • Akute Selbst- und Fremdgefährdung
    • Psychotische Symptome oder depressiver Stupor
    • Bei einer manischen Phase möglichst früh, solange noch zugänglich.
  • Eine mögliche Indikation zur elektiven stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung besteht in folgenden Situationen
    • Gefahr der depressionsbedingten Isolation und andere schwerwiegende psychosoziale Faktoren
    • Besonders schwierige äussere Lebensumstände
    • Therapieresistenz gegenüber ambulanten Therapien
    • Grosse Gefahr einer (weiteren) Chronifizierung
    • Schwere Krankheitsbilder, bei denen ambulante Therapiemöglichkeiten nicht ausreichen.
  • Notfallindikation zur stationären psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung: Bei Vorliegen einer akuten suizidalen Gefährdung oder Fremdgefährdung mit fehlender oder eingeschränkter Absprachefähigkeit und bei psychotischen Symptomen
    –> Siehe auch Factsheet Erwachsenenschutzrecht und Factsheet Suizid.

 

3. Therapeutisches Vorgehen

Behandlungsziele

  • Vollständige Symptomremission und Rückfallprophylaxe (11, 14). Die hierzu geeignete Behandlungsplanung ist gemeinsam mit dem Patienten abzustimmen, ev. unter Einbezug von Angehörigen.

Leichte depressive Episode

  • Watchful waiting“, vor allem wenn ein Abklingen der Beschwerden wahrscheinlich ist. Eine spezifische Therapie ist nicht erforderlich, der Verlauf soll aber innerhalb der ersten 2 Wochen überprüft werden. Zu empfehlen sind: Coaching, Stimmungstagebuch (tägliches Protokollieren von Stimmung, Schlaf, Appetit, Konzentration).

Mittelschwere depressive Episode

  • In erster Linie psychotherapeutische Verfahren, Antidepressiva können angeboten und eingesetzt werden, wenn der Patient dies wünscht.

Schwere und chronische Depression

  • Kombinationsbehandlung aus medikamentöser und Psychotherapie. Bei psychotischen Symptomen (depressiver Wahn) Einsatz von Neuroleptika.

3.1. Psychotherapie

  • Psychotherapeutische Verfahren haben sich im ambulanten und
    (teil-)stationären Bereich bewährt und kommen zur Akuttherapie der mittelschweren und schweren Depression, zur Stabilisierung des Therapieerfolgs und zur Rezidivprophylaxe in Frage
  • Wird eine Monotherapie bei einer mittelschweren depressiven Episode erwogen, gilt eine Psychotherapie als gleichwertig zur medikamentösen Therapie
  • Bei schweren, chronischen und Altersdepressionen ist eine Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie wirksamer als eine Monotherapie mit Psychotherapie oder Medikation
  • Unter Psychotherapie in Kombination mit Antidepressiva brechen weniger Patienten die Therapie ab, zeigen eine höhere Medikamentencompliance sowie die günstigsten Responderraten (30)
  • Bei einer schweren depressiven Episode ist zu erwarten, dass die Wirkung einer alleinigen Psychotherapie später einsetzt als unter alleiniger Pharmakotherapie oder Kombinationsbehandlung.

Psychotherapie-Verfahren

Folgende therapeutischen Ansätze werden häufig angewendet, von erfahrenen Therapeuten auch kombiniert, je nach Situation des Patienten. Während die ersten vier Verfahren speziell auf die Eigenheiten depressiver Erkrankungen zugeschnitten sind, sind psychodynamische und gesprächstherapeutische Ansätze eher allgemeiner Natur (30)

  • Kognitive Verhaltenstherapie (KVT)
  • Interpersonelle Psychotherapie (IPT)
  • Achtsamkeitsbasierte kognitive Therapie (MBCT)
  • CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy) ist bei chronischen Depressionen eine evidenzbasierte Option (16)
  • Gesprächspsychotherapie (GT)
  • Psychodynamische Kurz- und Langzeitansätze.

Entscheidend für den Heilungserfolg ist die Entwicklung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung

  • Internetgestützte Psychotherapie ist noch weitgehend im experimentellen Stadium (15)

 Siehe auch Factsheet Anordnung Psychotherapie

3.2. Pharmakotherapie (Antidepressiva [AD])

Indikation

  • Die medikamentöse Therapie wird bei schwerer Depression im Rahmen einer Kombinationstherapie empfohlen, bei mittlerem Schweregrad kann sie begleitend zur Psychotherapie angeboten werden (11, 14).

Nutzennachweis

  • Gegenüber Placebo beträgt der Vorteil der AD in zahlreichen Studien etwa 2–4 Punkte auf der HDRS-17 (mögliche Zahlenwerte 0–52 Punkte)
  • Insgesamt wird die Wirksamkeit von AD wahrscheinlich überschätzt (Publikationsbias)
  • Der Nutzen von Antidepressiva ist bei leichten Depressionen nicht nachgewiesen. Je schwerer die Depression, desto grösser ist der Nutzen von AD
  • Bei schweren Depressionen (HDRS-17 > 24 Punkte) profitieren bis zu 30 % der Patienten über die Placeborate hinaus von Antidepressiva (11, 25)
  • Etwa zwei Drittel der Patienten sprechen zumindest teilweise auf Antidepressiva an, bei jedem zweiten von ihnen wird aber keine vollständige Remission erzielt. Es lässt sich nicht im Vorhinein ermitteln, welche Patienten wahrscheinlich auf ein bestimmtes Antidepressivum ansprechen werden.

Grundsätze der Pharmakotherapie (11, 14, 25, 26)  

  • Es gibt zwischen den Antidepressiva keine generellen Wirksamkeitsunterschiede. Die Wahl des Medikaments erfolgt im Wesentlichen anhand der Nebenwirkungen (s. u.), z. B. schlafanstossendes Trazodon bei Schlafstörungen. Ausführliche Aufklärung über die Anwendung und mögliche Nebenwirkungen (–> s. Tabelle 3 und – im Anhang – Tabelle 4). SSRI und die neueren AD sind meist besser verträglich (weniger Abbrüche) und das Sicherheitsprofil ist günstiger, v. a. aufgrund geringerer anticholinerger und kardiotoxischer NW
  • Falls initial keine Gründe für eine andere Substanz sprechen, empfiehlt mediX als First-line-Therapie generisches Escitalopram: Tagesdosis auftitrieren auf
    10 mg (statt 20 mg bei Citalopram). Bei signifikanten Schlafstörungen ist alternativ Mirtazapin abends, Beginn 15–30 mg, Erhaltungstherapie 30–45 mg empfehlenswert. Alternative dazu ist das Trazodon, welches weniger Gewichtszunahme macht. Bei leichten und mittelschweren Depressionen kann initial ein Versuch mit Johanniskraut erwogen werden (11)
  • Bei der Wahl des Antidepressivums sollen die Erfahrungen des Arztes und des Patienten berücksichtigt werden
  • Bei adäquater Dosierung (siehe Tabelle 4 im Anhang) setzt die Wirkung der Antidepressiva rasch ein: Bei ca. 65 % aller gebesserten Patienten innerhalb der ersten beiden Wochen
  • Tritt in den ersten beiden Wochen keinerlei Besserung ein, sinkt die Wahrscheinlichkeit eines therapeutischen Ansprechens auf unter 15 %. Nach drei Wochen ohne Besserung liegt die Wahrscheinlichkeit bereits unter 10 %
  • Bei fehlender Response ist zunächst der Wechsel auf ein anderes Antidepressivum indiziert. Eine Metaanalyse zeigt einen geringfügigen, aber signifikanten Vorteil bei Wechsel von einem SSRI auf ein Antidepressivum mit anderem Wirkmechanismus (Bupropion, Mirtazapin, Venlafaxin, Duloxetin) (31). Auch kann (insbesondere bei nur teilweiser Response) eine Kombination zweier AD mit unterschiedlichen Wirkprofilen (z. B. SSRI plus Mirtazapin oder Bupropion) die Response erhöhen; des weiteren eine Augmentation mit einem atypischen Antipsychotikum (insbesondere Aripiprazol oder Quetiapin) oder mit Lithium
  • Die Kombination zweier Antidepressiva kann bei therapieresistenten Patienten sinnvoll sein, wenn die Bereitschaft besteht, allfällige Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen. Ein möglicher Nutzen konnte in Studien bisher nur für die Kombination von Mianserin (Cave: Agranulozytoserisiko) oder Mirtazapin mit einem SSRI oder TZA gezeigt werden
  • Depressive Episode im Rahmen einer bipolaren Störung: Bei mittelschweren und schweren depressiven Syndromen bei bipolarer Grunderkrankung besteht die Indikation für eine depressionsspezifische Pharmakotherapie, wobei in diesem Fall eine Monotherapie mit einem Antidepressivum möglichst vermieden werden sollte, um das „Switch“-Risiko (in eine Manie) zu minimieren. Vielmehr sollte auch ein stimmungsstabilisierendes Medikament (weiterhin) zum Einsatz kommen. Mittel der ersten Wahl ist zunächst in der Akut- und Erhaltungstherapie Quetiapin (bis zu 300 mg/d), wenn es bezüglich der Nebenwirkungen (metabolische NW, QTc-Zeit-Verlängerung) toleriert wird. Ansonsten sind wegen des höheren Switch-Risikos Venlafaxin und TZA möglichst zu vermeiden, SSRI sollte der Vorzug gegeben werden (29)
  • Schrittweises Auftitrieren der Dosis wird vor allem bei TZA, aber auch (weniger dringlich) bei SSRI und neueren Antidepressiva (Mirtazapin, Venlafaxin) empfohlen. Bei SSRI ist keine Dosis-Wirkungs-Beziehung nachgewiesen (siehe auch Tabelle 4 im Anhang)
  • Antidepressiva im Alter: Aufgrund verschiedener Faktoren (relativ erhöhter Anteil an Fettgewebe bei reduzierter Muskelmasse und somit verlängerter systemischer Verweildauer, Verminderung des Plasmaproteingehaltes, verzögerter Arzneimittelmetabolismus, erhöhtes Risiko von Interaktionen bei Polypharmakotherapie) ist bei Menschen im Alter ein langsames Aufdosieren unter Monitoring relevanter Parameter (Nierenfunktion, Leberfunktion, kardialer Status) und eine möglichst niedrige wirksame Dosis anzustreben. Aufgrund erhöhter Empfindlichkeit gegenüber einem anticholinergen NW-Profil (–> Neigung zu Verwirrtheit bzw. Delir) sind trizyklische Antidepressiva im Alter zu vermeiden und SSRI (Natrium-Kontrollen!), Mirtazapin oder Agomelatin (Leberwert-Kontrollen) zu bevorzugen
  • ABCB1-Gentest (im Labor Viollier durchgeführt): Einmalige Messung von DNA-Sequenzvarianten im ABCB1-Gen, das für das P-Glykoprotein kodiert. Der Test soll Patienten identifizieren, bei denen aufgrund von Polymorphismen bestimmte Antidepressiva die Blut-Hirn-Schranke weniger leicht passieren können (–> mangelndes Therapieansprechen). Die Kosten (CHF 245.–) werden von der Grundversicherung nicht übernommen
    • Die SGPP empfiehlt den Test, wenn nach 3–4 Wochen das initial eingesetzte Antidepressivum nicht (ausreichend) wirksam ist (26)
    • Zuverlässigkeit bzw. Nutzen des Tests sind jedoch umstritten (25, 27, 28).
      mediX empfiehlt den ABCB1-Gentest nicht.
  • Absetzen der Medikation: In der Regel Dosisreduktion schrittweise über einen Zeitraum von 4 Wochen. Fluoxetin kann wegen seiner sehr langen Halbwertszeit über einen kürzeren Zeitraum abgesetzt werden. Bei leichteren Absetzerscheinungen sollte der Patient beruhigt und gut überwacht werden. Bei schweren Symptomen noch langsamer absetzen oder eventuell auch Wiedereinsetzen der Medikation.

Tabelle 3: Antidepressiva: Nebenwirkungen und Arzneimittelinteraktionen (Auswahl)



3.3. Therapiemonitoring

Ein regelmässiges Monitoring ist notwendig (Response, NW, Komplikationen etc.) (11)

  • In den ersten 4 Behandlungswochen wöchentliche Konsultation, danach alle
    2–4 Wochen, nach 3 Monaten längere Intervalle
  • Spätestens nach 3–4 Wochen sollte entschieden werden, ob ein Wechsel oder eine Ergänzung der Behandlungsstrategie indiziert ist oder nicht
  • Bei Non-Response unter glaubhaft suffizienter Einnahme und Dosierung unter Trizyklika kann eine Plasmaspiegelkontrolle in Betracht gezogen werden.

Im Rahmen des Monitorings sollte geschlechtsunabhängig – wie bereits in der Anamneseerhebung – aktiv nach Störungen der Sexualität gefragt werden. Sexualstörungen sind ein häufiges Symptom der Grunderkrankung Depression.

Bei unter antidepressiver Therapie neu aufgetretenen oder (trotz Remission der Depression) persistierenden Sexualstörungen ist über einen Wechsel des Antidepressivums nachzudenken, schon weil Sexualstörungen die Medikamentencompliance deutlich verschlechtern. Insbesondere SSRI habe eine hohe Prävalenz unerwünschter Störungen der Sexualität um 60 % (Frauen wie Männer) – Escitalopram mit knapp 40 % etwas günstiger. Günstig in Bezug auf sexuelle UAW sind Bupropion, Agomelatin, Trazodon (cave: selten Priapismus beim Mann!) und Vortioxetin.

Anhand validierter Fragebögen lässt sich das Ansprechen auf die Therapie und die Besserung der depressiven Symptomatik ermitteln und dokumentieren (11). Dazu gehören

Zur Selbstbeurteilung

Zur Fremdbeurteilung

Labor/EKG Kontrollen (siehe auch Tabelle 4 im Anhang)

Insbesondere bei den neueren Antidepressiva (z. B. SSRI) ist die Frage der Häufigkeit und Frequenz von routinemässigen Laborkontrollen nicht empirisch abgesichert (30).

mediX schlägt vor

  • Anlässlich einer der ersten Kontrollkonsultationen, ca. 4 Wochen nach Beginn der antidepressiven medikamentösen Behandlung –> Kontrolle von: Blutbild, Leberwerte (zumindest GPT), Kreatinin Natrium/Kalium
  • Bei bestimmten Antidepressiva (Valdoxan) werden regelmässige Leberwert-Kontrollen empfohlen, bei Mianserin (Tolvon) regelmässige Leukozyten-Kontrollen
  • Bei älteren Patient*innen unter Diuretika (Hyponatriämie!) regelmässige Kontrolle der Elektrolyte (Na, K).

Hinweis: Die Kontrollfrequenz ist in Abhängigkeit von der somatischen Komorbidität, der Komedikation und dem Risikoprofil individuell festzulegen.

  • Gewichtskontrollen v. a. unter Mirtazapin, Trizyklika (TZA, z. B. Trimipramin und Amitriptylin) und Lithium
  • EKG bei Beginn und nach Einstellung auf die Zieldosis bei TZA und Mianserin (Verlangsamung der kardialen Erregungsleitung/Blockbilder), Citalopram/Escitalopram (QTc-Zeit-Verlängerung), sowie bei allen AD im Falle kardialen Vorerkrankungen oder in Kombination mit anderen QTc-Zeit-verlängernden Medikamenten.

3.4. Erhaltungstherapie

  • Durch eine Erhaltungstherapie kann das Rückfallrisiko um 70 % gesenkt werden (20)
  • Antidepressiva sollten mindestens 4 bis 9 Monate über die Remission hinaus eingenommen werden (in gleichbleibender Dosierung). Am Ende der Erhaltungstherapie schrittweise Dosisreduktion (11, 21)
  • Auch im Anschluss an die psychotherapeutische Akutbehandlung soll die Behandlung über 8 bis 12 Monate mit grösseren Sitzungsintervallen fortgeführt werden (11).

3.5. Rezidivprophylaxe

Das Risiko eines Rezidivs ist besonders hoch, wenn nach Ende einer depressiven Episode Restsymptome fortbestehen (22). Daher kann im Anschluss an die Erhaltungstherapie eine Rezidivprophylaxe sinnvoll sein. Sie wird empfohlen für Patienten

  • Die ein erhöhtes Risiko für ein Wiederauftreten der Depression aufweisen
  • Bei denen ungünstige Lebensumstände vorliegen, die zur Auslösung weiterer Krisen oder zur Chronifizierung beitragen können.

Insbesondere für Patienten mit rezidivierender oder chronischer Depression oder jene, die während der Episoden starke funktionelle Einschränkungen erlebt haben, wird eine längerfristige und unter Umständen sogar lebenslange Weiterführung der Behandlung empfohlen (11).

Die medikamentöse Behandlung soll dann mindestens zwei Jahre lang erfolgen – mit der Dosis, die sich in der Akutbehandlung als effektiv erwiesen hat. 

Eine psychotherapeutische Langzeitbehandlung (11, 23) ist nicht in jedem Fall indiziert aber kann vor allem nützlich sein, wenn

  • Der Aufbau von Bewältigungskompetenzen nötig ist
  • Langfristige psychosoziale Belastungen vorliegen
  • Die Remission einer vorher chronifizierten (> 2 Jahre) depressiven Störung vorliegt
  • Über die depressive Episode hinaus Störungen im Bereich von Beziehungen sowie der Selbst- oder Gefühlsregulation vorliegen.

Bei Suizidgefährdeten kann zur Rezidivprophylaxe Lithium erwogen werden, jedoch stehts in Rücksprache mit einem Psychiater (Nephrotoxizität).

3.6. Ergänzende Therapien

  • Bei Therapieresistenz trotz oben dargestellter leitliniengerechter Therapie in Rücksprache mit Psychiatern: Augmentation mit Lithium, Elektrokrampftherapie, Lichttherapie (insbesondere bei saisonaler Depression in der dunklen Jahreszeit), Wachtherapie (besser Schlafentzug), Ketamin (Zulassung für Esketamin-Nasenspray, ansonsten off-label), transkranielle Magnetstimulation
  • Sport- und Bewegungstherapie bzw. Ergotherapie können sinnvolle ergänzende Behandlungsmöglichkeiten sein. Darüber hinaus kommen Verfahren wie beispielsweise Kunst- und Gestalttherapien zum Einsatz.

 

4. Literatur

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5. Anhang

Abbildung A1: Screening-Fragebogen Manie

Screening-Fragebogen Manie


Tabelle 4: Übersicht Antidepressiva – Wirkstoffe, Eigenschaften, Dosierungen und Preise

 


6. Impressum

Diese Guideline wurde im September 2023 aktualisiert.
© Verein mediX schweiz

Herausgeberin
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel

Redaktion
Prof. Dr. med. Corinne Chmiel
Dr. med. Felix Huber
Dr. med. Uwe Beise
Dr. med. Maria Huber

Autoren
Dr. med. Arno Bindl
Dr. med. Andres Howald
Dr. med.
Uwe Beise

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